Klimanotstand: Demokratie und EnkelInnen-Zukunft

Die Stimmberechtigten der Stadt Zürich haben sich im November 2008 mit einem Ja-Stimmenanteil von 76.4 Prozent für die zukunftsgerichtete 2000-Watt-Gesellschaft entschieden. Die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft – eine Tonne Treibhausgasemissionen pro Person und Jahr im Jahr 2050, 2000 Watt mittlere Primärenergiedauerleistung pro Person – galten damals als visionär.

Der Kanton Zürich hat einige Zeit darauf ebenfalls ein Klimaschutzziel in das kantonale Energiegesetz aufgenommen. Absicht ist, «bis ins Jahr 2050 den CO2-Ausstoss auf 2,2 Tonnen pro Einwohnerin und Einwohner und Jahr zu senken». Dieses Ziel geht deutlich weniger weit als das Klimaschutzziel der Stadt Zürich.

«Das Modell der 2000-Watt-Gesellschaft ist veraltet.» lautet die Überschrift eines Interviews in der Zeitschrift moneta der Alternativen Bank mit Martin Neukom, seit Mai 2019 Zürcher Baudirektor. Die Einschätzung von Martin Neukom zum Klimaschutzziel der Stadt Zürich: «Das Anfang der 1990er-Jahre entstandene Modell der 2000-Watt-Gesellschaft war in der Tendenz richtig, aber heute sind wir tatsächlich einen Schritt weiter. Jetzt geht es beim Klimaschutz nicht mehr um die Reduktion von Emissionen. Das Ziel ist eine Umstellung von fossilen auf hundert Prozent erneuerbare Energien, so dass gar keine CO2-Emissionen mehr anfallen».

Die Klimastreiks/Klimademos haben in der zweiten Hälfte 2018 aufgenommen, was interessierten Kreisen schon länger klar war: echter Klimaschutz muss fossile Nullen anstreben, und zwar möglichst rasch! Der Zürcher Gemeinderat hat im Sommer 2019 eine Motion überwiesen, unter anderem mit der Forderung «Die Stadt Zürich setzt sich im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Ziel, bis ins Jahr 2030 eine Reduktion des CO2-Ausstosses pro Einwohnerin und Einwohner und Jahr auf Netto Null zu erreichen».

Im Lead des Artikels «In der Schweiz wird es sechs Grad wärmer» im Blog powernewz des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (ewz) heisst es: «Reto Knutti gilt als einer der weltweit führenden Klimaforscher. Der Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich hält es für richtig, dass sich die Stadt Zürich energiepolitisch Ziele setzt, die überambitioniert scheinen. Zum Beispiel, bis 2030 den CO2-Austoss auf Netto Null zu reduzieren. «Wir stehen vor einem Systemwechsel», sagt der 46-Jährige».

Kompromist, bewusst falsch geschrieben – das ist offenbar das, was die Politik eines demokratischen Rechtsstaates ausmacht. Konkret: Die Wissenschaft macht klare Aussagen zum zwingend notwendigen Ausstiegspfad aus den fossilen Energien. Die Politik interessiert dies nicht, sondern als demokratisch gilt nur, was von den PolitikerInnen als Kompromist zusammengekleistert wird – selbst dann, wenn der fossile Absenkpfad um Jahre oder gar um Jahrzehnte von den Vorgaben der Wissenschaft abweicht. Meist werden diese Kompromiste der Anforderung «schnelle, weitreichende und beispiellose Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft» des Weltklimarats IPCC nicht gerecht. Das interessiert die Politik nicht, die Willkür des Kompromists geht vor.    

Die politische Willkür des Kompromists steht vor den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Oder anders gesagt: meist kurzsichtige und kurzfristige Egoismen von Einzelnen oder Gruppen haben mehr Gewicht als Gemeinschaftsinteressen, als das gemeinsame Interesse Weltklima. 

Erdölvereinigung, Erdgaswirtschaft, Automobilwirtschaft, Flugunternehmen, die Werbewirtschaft, der HEV (ausgeschrieben offenbar Heizöl- und Erdgas-Verein) werden stärker berücksichtigt als die Wissenschaft.

Dazu passt auch, dass in der politische Debatte vermehrt Fakes und Lügen verwendet werden, offensichtlich bei der Öl-Lobby-Partei SVP, durchaus auch sozialromantischer Stuss, etwa bei der AL.

Wenn die Demokratie eine Zukunft haben soll,

  • ist sofort mit dem Ausstieg aus den fossilen Energien zu beginnen (parallel zum Ausstieg aus der Atomenergie),
  • ist möglichst rasch eine echte fossile Null zu erreichen,
  • hat auch in der Klimapolitik das Wollen im Vordergrund zu stehen.

Konkret:

  • Für eine nachhaltige, Enkelinnen-gerechte Entwicklung sind Suffizienz, Effizienz und Konsistenz als handlungsleitende Prinzipien zu konkretisieren. Am Beispiel Gebäude:  
    • Lebensabschnittsgerecht ist ein gutes Leben mit möglichst wenig Raumvolumen zu ermöglichen.  
    • Wenn Gebäude erneuert oder neu gebaut werden, ist für einen möglichst geringen Energieverbrauch für Heizung, Wassererwärmung  und weitere Zwecke zu sorgen.
    • Wenn eine Heizung zu ersetzen ist, hat die neue Heizung ab sofort ausschliesslich mit erneuerbaren Energien zu funktionieren, idealerweise ohne Verbrennungstechnologien – Gase in aller Form, Holz usw. gehören nicht zu den Zukunftsenergien.
    • So viel als möglich Energie, in erster Linie Sonnenenergie, ist an und auf den Gebäuden zu gewinnen. 
  • Um die Mobilität zu erhalten, ist der Verkehr zu reduzieren.
  • Wir haben uns von der Wegwerfgesellschaft zu entfernen – zum Beispiel durch die Abschaffung der Abfallentsorgung und die Stilllegung aller Kehrichtverbrennungsanlagen.
  • Es braucht neue Formen der Existenzsicherung, zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen für alle.

Einverstanden, das sind grosse Veränderungen, die hier gefordert werden –  «Wir stehen vor einem Systemwechsel», sagt ETH-Professor Reto Knutti (siehe oben). Darum ruft die Strasse derzeit «System Change not Climate Change». Es braucht Technik, es braucht weitere Entwicklungen und Forschungen, es braucht auch Verzicht. Es braucht hunderte von Einzelmassnahmen – im Wissen darum, dass jede und jeder hin und wieder auch liebgewordene Gewohnheiten zumindest in Frage stellen muss. Zum Verständnis der nachhaltigen Entwicklung gehören immer auch soziale und ökonomische Aspekte. Dabei ist zu beachten, dass neben dem Klimaschutz auch die Klimaanpassung erhebliche Mittel erfordert.

Stichwort «Muss» respektive «Müssen»: Der Handlungsbedarf ist so riesig, dass es als zentrales Handlungsfeld des demokratischen Rechtsstaates klare Vorschriften braucht. Egoismusfreier, altruistischer oder ethisch getragener Liberalismus reicht wie auch der Appell zur Eigenverantwortung nicht aus, dies aus den Erfahrungen der letzten 30 bis 40 Jahren Energie- und Klimapolitik.

Wenn wir es wollen, ist eine demokratische Umsetzung des Klimanotstandes im Interesse der EnkelInnen und UrenkelInnen möglich.


Das einleitende Plakat mit dem Zitat von Martin Neukom aus moneta verwendet den Schriftsatz GRETA GROTESK.