Erkältung wegen Atomausstieg?

In einem Artikel, den ich zuerst als Satire las, aber spätestens beim letzten Satz nur noch als Zynismus im Stile der $VP-Stammtischrunden verstand, macht sich der Journalist Peter G. Achten in Beijing gleichzeitig über China und die Bruchstücke der Schweizerischen Energiepolitik lustig, ohne etwas von der Sache zu verstehen oder substanzielle Beiträge zur Problemlösung anzuführen.

Herr Achten beschreibt die Praxis des Heizens oder Nicht-Heizens in China – Raumtemperaturen von 15 °C und Heizperioden unabhängig vom tatsächlichen Wettergeschehen ist aus seiner Sicht das, was in China Standard ist, mit Ausnahmen für die „Abzocker“. Und Herr Achten schlägt ganz $VP-artig den Bogen zum Atomausstieg in der Schweiz – er empfiehlt China als „Trainingslager für den Atomausstieg“. So quasi als Erinnerung an den kalten Krieg, als kritischen Geistern nicht nur in der Schweiz das Billett „Moskau einfach“ empfohlen wurde. Und als Folge dieses Trainingslagers verordnet er Erkältung. Sorry, Herr Achten, auch wenn Ihr Artikel auf der „kritischen“ Plattform infosperber erschienen ist, das ist unterste Journalismus-Schublade, das könnte direkt aus der Propaganda-Abteilung der Atomwirtschaft stammen.

Vorerst: auch wenn es – quasi als Altlast der Atomlobby – noch einige Elektroheizungen gibt in der Schweiz, auch wenn zukünftig immer mehr Wärmepumpen mit Strom betrieben, der Stromanteil für Heizungen ist in der Schweiz klein. Heizen ist vor allem ein Thema des Ausstiegs aus der fossilen Energien. Wärmepumpen übrigens vertragen sich bestens sowohl mit dem Atomausstieg und dem Ausstieg aus den fossilen Energien – sie gehören zu einer fossil- und nuklearfreien Energieversorgung.

Sind chinesische Nicht-Heiz-Raumtemperaturen (siehe oben) eine Folge des Ausstiegs aus den fossilen Energien, sind somit Erkältungen eine Folge des Ausstiegs aus den fossilen Energien (sie sind auf jeden Fall nicht eine Folge des Atomausstiegs)? Vorerst ist festzuhalten, dass es bereits heute – also auch bei den in der Schweiz üblichen höheren Raumtemperaturen – Erkältungen gibt. Oder mit einem Zitat aus Wikipedia: Die traditionelle und immer noch weit verbreitete Annahme, Erkältungen würden regelmässig allein durch Kälte – im wissenschaftlichen Sinne von Wärmeentzug als pathophysiologischer Mechanismus – beziehungsweise Kälteverursacher oder -formen wie beispielsweise Zugluft, Nässe, Unterkühlung verursacht, ist nicht korrekt. Kälte allein kann keine Erkältung auslösen, daher ist der Faktor Kälte keine hinreichende Bedingung. Da man auch an Erkältung erkranken kann, ohne zuvor Kälte ausgesetzt gewesen zu sein, ist Kälte ebenfalls keine notwendige Bedingung. Herr Achten, Ihr Artikel ist nicht einmal bei den überprüfbaren Fakten korrekt.

Die Raumtemperaturen sind, auch wenn sie nur eine Komponente des thermischen Raumkomfort ausmachen (mehr dazu im Beitrag Raumkomfort for Dummies), eine sehr emotionale Sache. Wie die thermische Raumkomfortforschung, zum Beispiel des früheren dänischen Professors P.O. Fanger, ergeben hat, sind sehr viele Komponenten des Raumes, aber auch der NutzerInnen und Nutzer, für das Komfortempfinden verantwortlich. Es gibt dazu aufwändige Berechnungsverfahren mit der mittleren Beurteilung (PMV) des Raumkomforts und der sich daraus ergebenden mittleren Unzufriedenheit (PPD). Im optimalen Zustand „neutral“ sind nur 5 % der NutzerInnen mit dem Raumkomfort nicht zufrieden, die eine Hälfte davon wünscht kühlere, die andere Hälfte wärmere Verhältnisse. Da es sich dabei um Beurteilungen bei einer sehr grossen Zahl von Menschen handelt, können in der realen Alltagssituation die Unterschiede wesentlich stärker wahrgenommen werden. Festzuhalten ist, dass es sich bei diesen Modellen um Ansätze handelt, die den Energiehaushalt des Körpers weitgehend exakt abbilden – der Wunsch nach einer mittleren Raumtemperatur von 21 °C bei sitzender Tätigkeit und einer dieser Arbeit angepassten Bekleidung hat also nichts mit Verweichlichung zu tun. Selbstverständlich können sich Menschen – in Grenzen – auch mit einem „kühlen“ oder gar „kalten“ Komfortniveau (gemäss PMV-Ansätzen) arrangieren, dies ist dann eindeutig weit ausserhalb des Komfortniveaus. Mit hoher Wahrscheinlichkeit verträgt sich ein deutlich abgesenkter Raumkomfort auf die Dauer nicht mit den privaten und beruflichen Aktivitäten einer Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft.

Aus meiner beruflichen Tätigkeit komme ich zum Schluss, dass die vorherrschende Raumtemperatur in den letzten 20 Jahren um zwei bis drei Kelvin angestiegen ist. Dies hat sehr viel damit zu tun, dass bei der Alltags-Bekleidung ein Trend hin zu einer All-Season-Garderobe stattfindet; dabei wird häufig das Zwiebelschalenprinzip (additive respektive subtraktive Schichten) ausser Acht gelassen. Da gleichzeitig – eben wegen dem immer höheren Anteil Dienstleistungsarbeitsplätze – vermehrt Computerarbeitsplätze anzutreffen sind, ist davon auszugehen, dass hier der Reboundeffekt massiv gewirkt hat.

Pro Grad Celsius höhere Raumtemperatur steigt der Energieverbrauch je nach Ausgangsniveau um fünf bis acht Prozent, in üblichen Raumtemperaturbereichen wird von sechs Prozent ausgegangen. Daher meine Behauptung, dass bei optimierten Raumtemperaturen um 21 °C die Kyoto-Verpflichtungen der Schweiz wenigstens bei der Raumheizung locker eingehalten werden könnten.

Bei (chinesischen) Raumtemperaturen von 15 °C könnte der Energieverbrauch für die Raumheizung bei massiver Einschränkung des Raumkomforts und erheblicher Erschwerung der Arbeitssituation vieler Erwerbstätigen um weniger als einen Drittel gesenkt werden – dies ist zuwenig, um etwa die Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft einhalten zu können; es ist zudem darauf hinzuweisen, dass bei solchen tieferen Raumtemperaturen erhebliche Probleme mit Feuchtigkeitskondensation an kalten Stellen zu erwarten sind, die zu Schimmelpilzem führen könne, was wenig zu einer nachhaltigen Alterung der Bausubstanz beiträgt. Es führt nichts daran vorbei: unsere Bauten müssen energieeffizienter werden, und wir müssen uns darauf einstellen, pro Person weniger Fläche zum Wohnen und zum Arbeiten zur Verfügung zu haben, mit Reduktionseffekten auch auf die Mietzinsen. Da in China die pro Person zur Verfügung stehenden Flächen deutlich tiefer sind als in der Schweiz, zeigen die chinesischen Raumtemperaturen bloss, wie schlecht die energetische Qualität der chinesischen Bauten sein dürfte.

Fazit: für die Energiepolitik der Schweiz können durchaus Lehren gezogen werden, aber nicht so, wie dies Herr Achten gerne möchte. Sowohl der Ausstieg aus der Atomenergie als auch aus den fossilen Energien hat keine negativen Wirkungen auf die akuten Erkältungen und damit die Volksgesundheit, im Gegenteil. Der Weg in eine nuklear- und fossilfreie Wärmeversorgung ist möglich bei gutem Raumkomfort und dank gesteigerter Energieeffizienz der Bauten, wenn es gleichzeitig gelingt, Rebound-Effekte wegzubringen und die Ansprüche an die Flächen zu vermindern.