Zürcher Zechprelleritis

Die Budgetdebatte gilt nicht nur in Parlamenten als wichtigstes politisches Geschäft des politischen Jahres. Da ein erheblicher Teil der Budgetmittel gebunden ist – entweder durch übergeordnete Gesetze oder durch vorausgehende Beschlüsse der Stimmberechtigten – besteht ein extrem kleiner Gestaltungsspielraum bei der Debatte. Selbst wenn dem Parlament die Budgethoheit zukommt: die Festsetzung des Budgets ist letztlich ein ausgesprochen operatives Geschäft ohne grösseren strategischen Gehalt. Da jede und jeder – ob berechtigt oder nicht – aus eigener Erfahrung meint, „riesige“ Sparpotentiale bei öffentlichen Haushalten zu orten, sind letztlich all die Streichungs- und Sparanträge oder sogar Rückweisungen mit Rasenmäher-Sparaufträgen simple populistische Politshow ohne jegliche Alltagsrelevanz.

Nun, wie bereits in meiner Analyse nach den Wahlen vermutet, versucht sich die „neue“ Mehrheit des Stadtzürcher Gemeinderates in Machtgames: diese bunt zusammengewürfelte Mehrheit will dieses Budget zurückweisen, will ein um 200 Mio Franken vermindertes Budget, ohne zu sagen, wo man sparen könnte. Und auf Nachfrage oder in den Stammtischforen der Tages-Zeitungen kommen dann Vorschläge, bei denen man sich fragen muss, ob sie überhaupt einen Sparbeitrag leisten können, und nie in der Grössenordnung, die verlangt wird. Wenn dann der freisinnige Finanzvorstand Martin Vollenwyder Sparmöglichkeiten nennt (etwa reduzierte Aufträge an das lokale Gewerbe), also an die vermutete WählerInnenschaft dieser populistischen Budgetverhinderer, wird ihm „Trotzhaltung“ unterstellt.

Klar ist: ein öffentlicher Haushalt ist in keiner Art und Weise vergleichbar mit dem Finanzhaushalt einer Familie. Bei Gemeinwesen ist derart viel Substanz verhanden, dass Perioden mit höheren Ausgaben als Einnahmen verantwortet werden können, da es auch wieder andere Perioden geben wird. Auch wenn es unterschiedliche Ökonomie-Glaubenslehren darüber gibt, ob öffentliche Gemeinwesen in Zeiten von (zum Teil absichtlich durch unqualifizierte Steuerfusssenkungen verursachten) Mittelknappheiten die Investitionen herunterfahren oder sogar ankurbeln sollten, verminderte Ausgaben des Gemeinwesens haben direkte Auswirkungen auf die Volkswirtschaft.

Auch Finanzvorstand Martin Vollenwyder meint, man könne etwa beim Bauen noch sparen. Nun ist dieses Thema uralt und schon mehrfach abgehandelt, in der Stadt Zürich etwa mit einem sehr aufwändigen Projekt „Stadt Zürich baut – gut und günstig„. Das zentrale Ergebnis: beim Bauen selber kann nicht wesentlich gespart werden, allenfalls durch Prozessoptimierungen – gespart werden kann nur durch Nicht-Bauen. Bei Neubauten – etwa dem Stadion oder dem Kongresszentrum – ist dies letztlich ein politischer Entscheid. Bei Bauten im Bestand geht es demgegenüber um die Bewirtschaftung der Investitionen, also der Vermögensanlagen, früherer Zeiten. Selbstverständlich können Erneueurungszyklen verlängert werden – allerdings im Wissen darum, dass schon seit längerer Zeit zu wenig in den Unterhalt, die Werterhaltung und die gezielte Wertsteigerung der Immobilien investiert wird. Oder anders: unser Gebäudebestand verlottert, und mit jeder Sparrunde kommt noch mehr Verlotterung dazu. Darüber hinaus: viele Bauten entsprechen etwa im Bezug auf die energetische Qualität, die Erdbebensicherheit oder die Zugänglichkeit für Behinderte nicht den aktuellen Erfordernissen v- mit jeder Sparrunde wird auch die Erreichung von in der Verfassung verankerten Zielsetzungen erheblich erschwert. Mit anderen Worten: die aktuelle Generation bezahlt die von ihr verursachten Kosten nicht! Nach Definition gilt dies als Zechprellerei. Wer trotz dieses Sachverhalts Rasenmäherkürzungen im Budget will, ignoriert die echten Herausforderungen – Ignoranz als politischer Grundsatz mag zwar populistisch attraktiv sein, verletzt aber im erheblichen Ausmass die Verfassungsvorgabe, Staat und Gesellschaft müssten sich nachhaltig entwickeln. Selbstverständlich gehören auch ökonomische Aspekte zur Nachhaltigkeit – allerdings hat sich der Steuerfuss nach den zu erfüllenden Aufgaben des Gemeinwesens zu richten und nicht umgekehrt.

Um nochmals auf das Bauen zurückzukommen: wenn gebaut wird, ist die Verminderung des Flächenanspruchs pro Person ein wesentlicher Kostenfaktor – wie dann der gleiche Finanzvorstand Martin Vollenwyder dafür plädieren kann, einem der zuvielen Superreichen dieser Welt für das Projekt Winkelwiese ein Übermass an Wohnfläche zuzubilligen, gehört ebenfalls ins Kapitel Zechprellerei.

Dazu ein weiterer Aspekt: ausgehend davon, dass Herrn Vollenwyder die Ergebnisse von „Zürich baut – gut und günstig“ tatsächlich kennt, ist das Festhalten an der Aussage „Man kann billiger bauen“ ein sehr direkter Vorwurf an die Bauwirtschaft (und damit zu einem erheblichen Teil an seine ParteikollegInnen von der FDP). Denn: entweder unterstellt Herrn Vollenwyder, dass die Baubranche – von der Planung bis zur Ausführung – die KundInnen abzockt, oder er erwartet, dass zukünftig in der Baubranche Sozial- und Oekodumping betrieben wird (tiefere Löhne, schlechtere Bauweisen und -techniken, …) – zum Beispiel Einkauf von Natursteinen in China oder Indien ohne Einforderung von Soziallabels zu den Arbeitsbedingungen. Nicht nur in diesem Bereich besteht erheblicher Erklärungsbedarf sowohl bei Stadtrat Vollenwyder als auch bei den süffisanten Politlächlern der Mehrheitsfraktionen im Gemeinderat.

Diese ganzen Budgetdiskussionen sind reinster politischer Sauglattismus. Denn: in etwas mehr als anderthalb Jahren, wenn es um die Behandlung der Rechnung 2011 geht, wird niemand mehr wissen, dass da die virtuelle Gemeinderatsmehrheit versucht hat, etwas finanzpolitischen Staub aufzuwirbeln. Denn: die Erfahrung der letzten Jahre zeigt (siehe Zusammenstellung der Daten in der nachfolgenden Tabelle), dass das Budget letztlich orientierenden Charakter hat; allein bei der Verwaltungsrechnung ergeben sich durchaus (in der Regel) Aufwandverbesserungen in der Grössenordnung von 200 Mio Franken, also etwa 3 Prozent des Aufwandes. Allerdings: da das Budget 2011 auf dem Projekt- und Finanzwesen-Wissen von etwa Mai 2010 aufbaut, ist eine Vorwegnahme einer solchen Budgetkorrektur schlichter Unsinn. Das wissen selbstverständlich auch die Pseudomehrheitsfraktionen, die das Budget zurückweisen wollen. Nochmals Zechprellerei – eine Budgetrückweisung hat nämlich einzig Folgen für die Verwaltung! Damit das Ego einiger „Politgrösschen“ gestärkt werden kann, muss einiges an zusätzlicher Arbeit – angesichts der extrem knappen personellen Ressourcen bei der Stadtverwaltung meist unbezahlte Überzeit – geleistet werden.

Oder anders: diese Budgetrückweisung ist billigste, realsatirische Stimmungsmache, macht das Parlament lächerlich – und wird der verantwortungsvollen Aufgabe „Budgethoheit“ in keiner Art und Weise gerecht. Welchen populistischen Haufen haben sich da die Stimmberechtigten zusammengewählt? Angesichts der real existierenden Probleme (zum Beispiel laufende Reduktion der Lebensqualität wegen des nach wie vor überbordenden Autoverkehrs auf Stadtgebiet) fragt man sich schon, was diese Mehrheit wohl zur Problemlösung beitragen kann.

Aufwand-, Ertrag- und Nettoinvestitionsvergleich Budgets/Rechnungen Stadt Zürich (in Mio Franken)

  Aufwand Ertrag Saldo Nettoinvestition
Budget Rechnung Aufwand-verm. Budget Rechnung  Ertrags-steigerung Budget Rechnung  Saldo-verbess. Budget Rechnung  Diff
2005 7’039.6 6’972.2 67.4 6’852.4 6’973.7 121.3 -187.2 1.5 188.7 885.2 680.2 205.0
2006 7’138.0 7’026.8 111.2 7’050.5 7’101.8 51.3 -87.5 75.0 162.5 879.8 642.4 237.4
2007 7’347.8 7’148.8 199.0 7’394.0 7’344.1 -49.9 46.2 195.3 149.1 997.8 766.3 231.5
2008 7’389.1 7’480.0 -90.9 7’448.6 7’300.7 -147.9 59.5 -179.3 -238.8 954.0 777.9 176.1
2009 7’959.6 7’948.3 11.3 7’743.3 7’942.2 198.9 -216.3 -6.1 210.2 1’158.8 848.3 310.5