Teufelskreise – Sackgassen

Nicht nur in Europa demonstrieren sehr viele Menschen gegen die übermässige Gewalt auch gegen Zivilpersonen, die die israelische Armee im Gazastreifen ausübt – gleichzeitig walzt die isralische Armee (Medieninformation vom 3.1.09 20 Uhr) über den Gazastreifen – und steigert das Übermass an Gewalt nochmals.

Eine Vorbemerkung: Gewalt durch wen auch immer ist absolut untauglich zur Lösung irgendwelcher Probleme. Gewalt legitimiert in keiner Phase der Eskalation Gegenwalt – sämtliche Schuldzuweisungen an vermeintliche Auslöser sind unqualifiziert und unsinnig. Denn genau diese Eskalation gehört zum Wesen der Gewaltanwendung. Nur: wie immer sind derartige Gewaltanwendungen Teile der sinnlosen Eskalationsspirale, sind Teil eines Teufelskreises, führen in die Sackgasse. Es macht also keinen Sinn, Raketenangriffe gegen Bombenangriffe auszuspielen. Es gibt nie eine Legitimation für Gewaltanwendungen in welcher Form auch immer!

Sicherheit – das ist bekanntlich mehr als direkte physische Bedrohung des Lebens. Da geht es auch um Aspekte der Nachhaltigkeit. Eine gesicherte Existenz verlangt Garantien im ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich.

Existenzrecht

Wer in Wikipedia den Begriff „Existenzrecht“ eingibt, wird auf die Seite „Existenzrecht Israels“ weitergeleitet. Dies ist bezeichnend für eine der eigenartigsten Diskussionen der Neuzeit. Da der Staat Israel seit 1949 Völkerrechtssubjekt ist, zu welchem automatisch das Existenzrecht gehört, sind eigentlich sämtliche Resolutionen der UNO zu diesem Thema im Bezug auf Israel allein Unsinn – weil ein Pleonasmus – und gehören auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt.

Im Gegensatz dazu gelten die palästinensischen Autonomiegebiete (Gazastreifen, Westbanks/Westjordan) als von Israel besetzt und somit nicht als Völkerrechtssubjekte. Mit andern Worten: die internationale Staatengemeinschaft lehnt das Existenzrecht für solche Gebilde ab.

Solange an den diversen UNO-Resolutionen und an der Definition der Völkerrechtssubjekte „Staaten“ nichts geändert wird, bedeutet eine Anerkennung des Existenzrechts Israel automatisch eine Nicht-Anerkennung eines Staatengebildes „Palästina“. Wenn nun Israel von Palästina die Anerkennung des Existenzrechts von Israel einfordert, verlangt Israel nichts anderes als den Verzicht der Palästinenser auf Autonomie – Israel verlangt damit nichts anders als die palästinensische Anerkennung der dauernden Vertriebenheit der Palästinenser. Oder anders: Israel will den Palästinensern den Boden unter den Füssen definitiv wegziehen.

Dass dies eine Teufelskreis-Sackgasse ist, muss nicht mehr näher ausgeführt werden.

Gewalt als Probemlösungsstrategie?

Seit der Staatsgründung ist Israel eine Gewalt-Maschinerie – eine sehr grosse und bestens gerüstete Armee, ein riesiger, weltweit tätiger Geheimdienstapparat – dieser Staat muss objektiverweise ganz klar als auch (staats-)terroristisch tätig bezeichnet werden.

Allerdings hat diese Gewalttätigkeit schlicht nichts bewirkt, im Gegenteil: weder die lokale noch die globale Sicherheitslage haben sich verbessert!

Wer Gewalt ausübt, anerkennt dies als prinzipielle Möglichkeit der Problemlösung. Aber: wer Gewalt säät, wird Gewalt ernten! Wer Gewalt ausübt, muss akzeptieren, dass auch andere Gewalt ausüben – es gibt prinzipiell keine gute oder schlechte Gewalt. Wenn nun Israel gegenüber den palästinensischen Autonomiegebieten Gewalt ausübt, ist es nur folgerichtig, dass die Menschen in den Autonomiegebieten nach Möglichkeit suchen, sich gegen diese Gewalt zu wehren, also sich selber zu verteidigen. Wenn Israel nun ein Bewaffnungsverbot fordert, selber aber mit immer härterer Gewalt einfährt und niederwalzt, ist dies einfach dumm und nicht nachvollziehbar – oder einmal mehr Teufelskreis-Sackgasse.

Was heisst Autonomie?

Widerwillig, wenn nicht gar berechnend hat Israel in den Camp-David-Abkommen der Schaffung der palästinensischen Autonomiegebiete zugestimmt, wohlwissend, dass diese Gebiete in dieser Form keine gesicherte Existenz haben, einerseits wegen des fehlenden Völkerrechtsstatus, andererseits, weil diese Gebiete ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich gar nicht funktionieren können – respektive dies einen langdauernden Prozess (mehrere Jahrzehnte) voraussetzt.

Die Menschen im Gazastreifen haben dies auch erkannt – und bei den (demokratischen!) Wahlen im Jahr 2006 der Hamas die absolut Mehrheit im palästinensischen Legislativrat zugewiesen! Sie versprachen sich von dieser Organisation eine bessere Vertretung als durch die Fatah. Weil es sich bei den Autonomiegebieten um relativ kleine Gebiete mit improvisierter Struktur handelt, sind diese Parteien multifunktional: sie übernehmen gesellschaftspolitische Aufgaben (Schule und Universität), sie sorgen für die karitative und gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung, sie sind für die (polizeiliche) Sicherheit zuständig – und sie sorgen sich auch um die militärischen Aspekte (im übrigen ganz im Sinne der Doktrin der Schweizerischen Landesverteidigung während des kalten Krieges, wo aktiver und vor allem passiver Widerstand gegen allfällige Besetzungen durch eine fremde Macht zur BürgerInnenpflicht deklariert wurde). Wenn die israelische Armee seit dem 27. Dezember 2008 Hamas-Einrichtungen zusammenbombt, zerbombt sie eben nicht nur klassische Militärobjekte, sondern immer auch Einrichtungen, die in erster Linie für die Zivilbevölkerung bestimmt sind. Und gerade im Gazastreifen – 40 Kilometer Länge mit im Mittel 9 Kilometer Breite, mit einigen relativ grossen Bevölkerungszentren – ist es schlicht und einfach nicht möglich und nicht sinnvoll, dass beispielsweise Hochschulen, Medikamentendepots oder Polizeiposten ausserhalb dieser Bevölkerungszentren liegen.

Weil die Mehrheit der Stimmenden eine politische Vertretung gewählt hat, die nicht nur eine politische Partei, sondern eben auch Gestalterin des Alltags ist – und der militärische Arm dieser Partei als Terrororganisation gilt -, führt jede Bombe, die über dem Gazastreifen abgeworfen wird, unmittelbar zu einem Angriff auf die Zivilgesellschaft – und zerstört genau das, was zwingend erforderlich wäre, wenn andere Strategien als Gewaltanwendung zum Durchbruch verholfen werden soll.

Somit führen auch die verlogenen Autonomie-Deklarationen der Camp-David-Verträge letztlich zu den Teufelskreis-Sackgassen im Nahen Osten.


Dass es sich dabei um eine Sackgasse handelt, ist global und lokal sehr wohl anerkannt – jede Gewaltanwendung – und damit jeder Eskalationsbeitrag – ist letztlich ein Ausdruck der vorherrschenden Hilflosigkeit und Ratlosigkeit. Wenn dabei die Humanität vergessen wird, ist dies unverzeihlich. Dass beispielsweise die israelische Armee dem Internationalen Roten Kreuz den Einsatz von Kriegschirurgen im Gazastreifen verbietet, ist unter keinem Titel zu rechtfertigen.


Mögliche Lösungsansätze?

Als erster Punkt: sofortiger, selbst einseitiger Gewaltverzicht – und keine Ausstiegsklauseln dazu! Und zwar nicht nur im Nahen Osten, sondern global. Gewalt ist generell zu ächten, die Waffenarsenale sind im Sinne einer ernsthaften und glaubwürdigen Abrüstung erheblich zu verkleinern (und dabei sind auch erhebliche Auswirkungen auf die Menschen in der Zivilgesellschaft zu erwarten – weil dann Gewalt nicht mehr als Lösungsstrategie, auch im zwischenmenschlichen Bereich – akzeptiert wird).

Das menschliche Existenzrecht bezieht sich nicht nur auf staatliche Strukturen, sondern umfasst sehr viele Aspekte der ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Nachhaltigkeit. Ohne Frieden der Menschen mit der Natur ist auch kein Friede unter den Menschen möglich. Dies heisst: so rasch als möglich müssen in den Ländern, welche durchschnittlich über einen übermässigen ökologischen Fussabdruck verfügen, erhebliche Anstrengungen zur Reduktion der übermässigen Ressourcenbeanspruchung des einen Planeten Erde unternehmen – Stichwort beispielsweise 2000-Watt-Gesellschaft.

Als Richtschnur dient auch hier der Weltethos:

  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau

Siehe dazu auch ein Artikel zu einem Beitrag von Hans Küng.

Entscheidend dabei: es braucht sehr viele Menschen, die nicht in der Eskalationsspirale der Vergangenheit verhaftet bleiben wollen, sondern die den Mut, die Hoffnung, den Glauben – oder im Sinne von Hans Küng – die Kühnheit haben, an einer Lösung zu arbeiten, die auf Dauerhaftigkeit ohne Gewalt angelegt ist! Es braucht also Menschen guten Willens!


Nachtrag 10. Januar 2009

Kein aussenstehendes Gremium dürfe über das Recht Israels entscheiden, seine Bürger zu beschützen, erklärte das Büro Olmerts am Freitag. So wird in den Medien über die Haltung der israelischen Regierung zur Resolution des Weltsicherheitsrates berichtet. Dies wäre einfach ein Beispiel mehr zur ignoranten Haltung gegenüber den Anliegen der Weltgemeinschaft. Herr Olmert und seine Regierung begeht mehrere grobe Fehler. Das Recht auf Sicherheit ist unbestritten – denn auch in der Resolution des Weltsicherheitsrates geht es ausdrücklich darum, wie ein Staat gegenüber einem besetzen Nachbargebiet dieses Recht durchsetzt. Oder anders: letztlich geht es auch hier um die goldene Regel der Ethik. Die eigene Sicherheit ist nur zu haben, wenn auch die Sicherheit der Nachbarn gewährleistet ist. Wenn von den Menschen im Gazastreifen ein aktiver Sicherheitsbeitrag für die Menschen in Südisrael geleistet werden soll, muss auch die Sicherheit der Menschen im Gazastreifen gewährleistet werden (zur Beachtung: diese Bedingung hat mit Absicht keine zeitlichen Abhängigkeiten, weil es keine Vorleistungen geben kann/darf).

Wenn die „Kriegsziele“ der israelischen Armee betrachtet werden, erinnert dies fatal an die Lügen der Vereinigten Staaten und insbesondere seines Präsidenten George W. Bush zu den Massenvernichtungswaffen in Irak. Wenn die makabre Verhältniszahl von toten Menschen im Gazastreifen zu den toten Menschen aus Israel auf dem Tisch liegt, stellt sich die schlichte Frage, ob es denn tatsächlich zu einem nennenswerten Schmugel von Waffen über die Kleintunnels an den „Grenzen“ des Gazastreifens kommt. Warum wohl ver- und behindert die israelische Armee die unabhängige Berichterstattung, entgegen allen internationalen Regeln, entgegen dem Verständnis moderner Gesellschaften. Was will die israelische Armee da verstecken und verheimlichen?


Nachtrag 18.1.09

Wenn Israel am 17.1.09 einen einseitigen Waffenstillstand verkündet, ist dies eine gut gemeinte Absicht – da aber bekanntlich „gut gemeint“ das Gegenteil von „gut“ ist, führt auch dies in die Sackgasse weiterer Gewaltanwendungen. Einmal mehr zeigt sich, dass mit geballter militärischer Gewalt individuell mögliche Gewaltanwendungen (Raktenabschuss aus dem Gazastreifen) nicht unterbunden werden kann. Dies würde die zeitlich und örtlich lückenlose Überwachung einer sehr grossen Zahl von Menschen erfordern, ein Ding der Unmöglichkeit – schliesslich ist dies das „Geheimrezept“ jeder Widerstandsbewegung, was der israelischen Armee nicht gelingt, kann sie deshalb nicht den wesentlich kleineren und eindeutig schwächeren staatlichen Organen im Gazastreifen anlasten. Verbesserungen können nur dann erreicht werden, wenn die Widerständigen einen anderen nicht gewalttätigen Weg als bessere Alternative sehen. Es ist zu hoffen, dass hier die Weltgemeinschaft endlich aus der Geschichte lernt – und unabhängig vom Zustand der Eskalationsspirale jegliche Form der Gewaltanwendung kategorisch und grundsätzlich ablehnt und letztlich ächtet.

Wenn die Zentralpräsidentin der Gesellschaft Schweiz-Israel (GSI), Vreni Müller-Hemmi an einer Kleindemo in Bern vom 17.1.09 von der Schweizerischen Politik verlangt, „die Verantwortung der Hamas für die israelische Militäroffensive in aller Deutlichkeit aufzuzeigen und zu verurteilen„, so dient sie der Sache nicht – Gewalteskalation hat im zwischen-„staatlichen“ Bereich nie nur eine verantwortliche Seite; es ist beispielsweise umstritten, ob auch Israel die Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens vom Sommer 2008 umgesetzt hat und wie genau die Zusammenhänge zwischen israelischen und palästinensischen Eskalationsbeiträgen aussehen. Zu beachten ist zudem, dass sowohl Israel wie Palästinenser jahrzehntelange Übung in Eskalationspropaganda haben. In dieser Situation ist es fahrlässig und brandstiftend, für die eine oder andere Partei Position zu beziehen, weil man dadurch automatisch zum Propaganda-Bestandteil wird.

Es gibt eine einzig mögliche Haltung: Lösungen sind nur unter vollständigem Gewaltverzicht aller Beteiligten und unter umfassendem Einbezug der „Goldenen Regel der Ethik“ – „tue nur das, was Du wünschen kannst, dass es auch Dir angetan wird“ – möglich.

1. Fassung 3. Januar 2009