Widerspruch, Frau Lewitscharoff – auch elektronische Bücher bieten haptische Erfahrungen

Sibylle Lewitscharoff, Büchner-Preisträgerin 2013, hat bei der Eröffnungsrede der Buch Wien das elektronische Lesen abgekanzelt, zwar deklariert als eigene Sicht, aber derart kategorisch, dass Sibylle Lewitscharoff nur schon die Möglichkeit, dass elektronisch aufgerufene Texte eine Leseerfahrung ermöglichen, ausschliesst. Da dieser Text in vollständiger oder gekürzter Form etwa in derStandard oder im Tagesanzeiger erschienen ist, lohnt sich ein Widerspruch.

Frau Lewitscharoff schenkt den Lesenden (auch solchen, die dies in elektronischer Form tun) ein neues Wort: elektronisches Lesen sei ihr zu flüchtig, zu verschwindibushaft. Nun, dieses Wort gibt es im Duden nicht – wenn eine Schriftstellerin ein neues Wort erfindet, geht es offenbar um Themenbereiche, die mit dem Schriftstellenden vertrauten Werkzeug Schriftsprache nicht gefasst werden können.

Frau Lewitscharoff liefert eine Ergänzung nach. Lesen ist für sie direkt verbunden mit der haptischen Erfahrung eines Buches in den eigenen Händen – nur die Haptik des Buches kann gemäss Ansicht von Frau Lewitscharoff verhindern, dass ein gelesener Text auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Nimmerwiedersehen ist im Duden enthalten, das scheint also eine Alltagserfahrung zu sein. Texte sind also nach Frau Lewitscharoff zu begreifen. Möglicherweise wäre ein solcher Test ein interessanter Beitrag für ein Format wie „Wetten, dass …“. Wer kann mit verbundenen Augen, allein aufgrund der Haptik 10 Bücher aus der eigenen Büchersammlung erkennen und daraus erzählen!

Elektronische Texte sind nicht wirklich flüchtig, ausser, sie werden absichtlich gelöscht. Wenn in einem Buch geblättert wird, sind auch die umgeblätterten Seiten flüchtig, verschwinibushaft. Die zu lesenden Texte erscheinen nicht im luftleeren Raum, sondern auf einem physischen Gerät. Auch dieses Gerät ermöglicht haptische Erfahrungen, durch verschiedene Hüllen lässt sich die Haptik verändern. Als kleine eigene Erfahrung: bei den ersten Büchern, die ich auf dem Tablet gelesen hatte, kam es gelegentlich vor, dass ich das Tablet umwenden wollte, wie eine Seite im Buch – unterdessen passiert das Gegenteil: lese ich ausnahmsweise einen Text auf Papier, kommt es gelegentlich vor, dass ich zum Wenden des Papiers auf die untere rechte Ecke klicke, und dann mit Erstaunen feststelle, dass dies nicht funktioniert. Oder anders: elektronisches Lesen ist gewöhnungsbedürftig – ich mag mich nicht zu erinnern, aber ich gehe davon aus, dass dies bei den viele Jahre zurückliegenden ersten Buchleseerfahrungen nicht anders war.

Wie schon festgehalten, hat Frau Lewitscharoff diese elektronische Buchbeurteilung aus ihrer Sicht formuliert – einfach mit einigen kategorischen Schlussfolgerungen.

Interessant ist, dass die Kritik am elektronischen Text gekoppelt ist mit einem sehr bissigen Angriff auf Amazon (dieser Schlussteil ist im Tagesanzeiger-Beitrag vom 14.12.2013 nicht enthalten, wohl aber im Text der Buch Wien-Eröffnungsrede). Gedrucktes Buch, erstklassige Verlage, geliebte Buchhändler (wo bleiben die Buchhändlerinnen?) – das ist gemäss Frau Lewitscharoff die Welt des Lesens. Dies ist durchaus eine mögliche Lesewelt. Der Verdacht besteht allerdings, dass Frau Lewitscharoff nicht gemerkt zu haben scheint, dass sich ausserhalb der Lesewelt einiges verändert hat. Wenn sich die Warenkette bei vielen Dingen des täglichen Bedarfs ändert, ist dies beim Lesen (respektive dem Buch), durchaus auch Alltag, nicht anders. Neckisch, dass die Kritik von Frau Lewitscharoff etwa gleichzeitig erfolgte wie Meldungen von Amazon, die Auslieferung von gedruckten Büchern mittels elektrisch angetriebenen Drohnen/Oktakoptern zu prüfen. Mit anderen Worten: es ist einiges an Aufwand erforderlich, damit das gedruckte Buch zu den LeserInnen kommt. Dies führt unweigerlich zur Frage, ob das gedruckte Buch als nachhaltig bezeichnet werden kann – ich tendiere zu einem Nein!

Frau Lewitscharoff betont die Objekthaftigkeit des Buches, schwärmt von der Schönheit von Büchern. Einverstanden, dem ist so, dieser Aspekt brauchte auch bei mir ein bewusstes Verabschieden beim Wechsel zu elektronischen Büchern. Weil unsere Wohnungen mit Stehzeugen aller Art überfüllt sind, brauchen wir einen neuen Zugang zu materiellen Dingen, zu Objekten. Einmal gelesene Bücher aus Liebhaberei in ein sich immer stärker füllendes Gestell abzulegen, auch dies ist Stehzeug-Kultur – ich meine, dass wir uns diese Stehzeugkultur nur für ganz wenige Dinge leisten können, einige wenige Bücher mögen dazugehören, grosse Privatbibliotheken allerdings kaum.

Die physische Form unseres Lesestoffes – Buch oder elektronischer Text – darf nichts mit der Lesefreude zu tun haben. Deshalb wiederhole ich: Hauptsache Lesen – mit Genuss und Spass!