Von Minergie-Sagen und anderen Energie-Märchen

Nicht nur die Schweizerische Energie- und Klimaschutzpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass die erwünschten Resultate – die Verminderung des Energieverbrauchs und des Ausstosses von Treibhausgasen – ausbleiben oder deutlich geringer ausfallen als erhofft oder erwünscht. Ein Aspekt: Legenden statt Know-how!

Nachtrag 12.1.2013: Luftfeuchtigkeit, Raumtemperaturen und Luftqualität sind nicht nur ein Minergie-Thema. Darum dazu der Beitrag Raumkomfort for Dummies.

Neuestes Beispiel: der Artikel „Viel Ärger mit Minergie-Standard“ in der NZZ am Sonntag vom 19. Dezember 2010 (P.S. da dieser nur im Bezahlangebot vorhanden ist, ist ist eine Verlinkung nicht möglich; ich werde deshalb einzelne Abschnitte zitieren). Es werden diverse Befragungen von MieterInnen zitiert, ebenso kommen Franz Beyeler, Geschäftsführer des Vereins Minergie, der Energieberater Christof Meier und Jörg Watter, Präsident des Vereins Schweizer Baubiologen SIB zu Wort.

Hintergrund und „Botschaft“ des Artikels ist die Unzufriedenheit von (einzelnen) MieterInnen mit ihren Minergie-Wohnungen – zu warm, zu trocken, zu zugig, zu laut, zu staubig lauten einige Kritikpunkte.

Vorerst: rein prinzipiell gefällt mir Minergie – der Minergieprozess ist ein Qualitätssicherungsprozess für Bauvorhaben (und wie immer bei Qualitätssicherung: der hundertprozentige Erfolg ist nicht garantiert). Minergie ist letztlich eine gebäudepolitische Absichtserklärung, kein Instrument der Wirkungskontrolle. Wie im übrigen die gesamte Energiepolitik: bis anhin geht es in der Energiepolitik um die Massnahmenumsetzung, nicht um die Erzielung von Wirkung. Dies ist politisch so gewollt: es gibt keine Energieverbrauchsziele auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe – selbst die CO2-Zielsetzungen der nationalen Gesetzgebung lassen sich zumindest derzeit mit einem Wechsel etwa von Heizöl zu Erdgas erreichen. Wenn etwas geändert werden muss: wir brauchen eine Energiepolitik mit Wirkungszielen.

Zu warm, zu trocken. Dieser Kritikpunkt an Minergie weist auf einen anderen wichtigen Aspekt hin, den Rebound- oder Backfire-Effekt. Am Beispiel Gebäude: weil ja die Häuser eine bessere Wärmedämmung haben, ist die Verlockung gross, dafür einige Grad mehr zu heizen. Statt den wie noch vor 20 Jahren üblichen 19 bis 20 Grad Celsius Raumtemperatur scheinen heute Temperaturen von 23 bis 24 Grad Celsius schon fast erwartet zu werden – und es ist nicht nur die Kleider-Mode! Schwierig auch: wenn sich nur eine Mieterin oder ein Mieter über eine zu tiefe Raumtemperatur beschwert, wird in der Regel die Temperatur für das gesamte Haus angehoben. Nur: eine 4 Grad höhere Raumtemperatur führt zu einem Energieverbrauch für Raumheizung, der rund 25 % höher ist als zum Planungszeitpunkt vorausberechnet wurde!

Zudem: die erhöhte Raumtemperatur hat einen direkten Zusammenhang mit dem Gefühl von zu trockener Luft! Denn: die gleiche Luft, die bei einer Raumtemperatur von 20 Grad Celsius eine für die Winterzeit empfohlene relative Luftfeuchtigkeit von 45 % hat, weist bei 24 Grad Celsius nur noch eine relative Luftfeuchtigkeit von etwa 35 % auf (siehe Feuchterechner).

Die Komfortlüftung einer Minergie-Wohnung sollte nur gerade die Luftmenge umwälzen, die eine gute Luftqualität ermöglicht, dies heisst, es müsste eigentlich nur soviel frische Luft in die Räume geblasen werden, dass der Sauerstoffgehalt für das Atmen ausreicht, respektive dass der Kohlendioxidgehalt der Luft die Komfortgrenzen nicht überschreitet. Weil allerdings selbst baubiologisch akzeptierte Baumaterialien Geruchsstoffe an die Luft abgeben, zusätzlich aber auch die Lebensweise olfaktorisch wahrnehmbare, nicht nur angenehme Gerüche hinterlässt, wird häufig doppelt- bis dreimal soviel Aussenluft in den Raum geblasen wie aus hygienischen Gründen erforderlich wäre. Mit erheblichen Auswirkungen auf die Raumuftfeuchte, denn winterliche Aussenluft enthält weniger Feuchtigkeit als Raumluft! Wieder an einem Beispiel: wird Aussenluft von 2 Grad Celsius mit 90 % relativer Feuchtigkeit auf 24 °C erwärmt, ergibt dies eine Luftfeuchtigkeit von etwa 21 Prozent relativer Feuchte! Als generelles Fazit: wenn eine Komfortlüftung nur den hygienisch notwendigen Luftwechsel gewährleistet, reicht die übliche Feuchtigkeitsproduktion in einer Wohnung, um eine angemessene Luftfeuchtigkeit zu ermöglichen. Im Artikel wird etwa ausgesagt, in verschiedenen Wohnungen seien Luftbefeuchter im Einsatz. Ganz einfach: ist aus anderen als medizinischen Gründen ein Luftbefeuchter erforderlich, ist der Raum zu warm und/oder zu stark belüftet – siehe dazu den Beitrag Raumkomfort for Dummies.

Die doch etwas längere Erläuterung dieses Sachverhalts zeigt einerseits, dass es sich um relativ einfache Physik handelt, es aber mehrere Abhängigkeiten gibt. P.S. Diese gelten selbstverständlich auch in Nicht-Minergie-Bauten, und es gibt die entsprechende Probleme in ausreichendem Mass – sie werden aber nicht thematisiert, im Gegensatz zu Minergie-Gebäuden, da diese ausdrücklich mit dem Komfortargument beworben werden.

Wohnen kann man doch einfach, das macht ja die Menschheit schon sehr lange Zeit. So tönt es jeweils, wenn ich bei Reklamationen anrege, ein Minimum an Informationen über „richtiges“ Wohnen, zum Beispiel über Thermodynamik feuchter Luft, zu vermitteln. Auch hier: würden Computer mit so wenig Anleitung verkauft wie Wohnungen, so dürften wahrscheinlich 95 % der Computer unbenutzt entsorgt werden …

Um hier komfortable Zustände zu ermöglichen, ist ein längeres Pröbeln erforderlich, um Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit und Frischluftmenge dem individuellen Bedarf eines Haushalts anzupassen. Im übrigen: viele dieser MieterInnen-Befragungen ergeben auch, dass die NutzerInnen gar nicht wissen, dass in ihrer Wohnung eine Komfortlüftung eingebaut ist! Diese Experimentierphase wäre auch bei Nicht-Minergie-Bauten erforderlich, aber, und das steht schon oben, dort wird dieses Thema nur im Bauschadensfall abgehandelt.

Zu trockene Luft wird auch als staubiger wahrgenommen – einerseits wegen der Wirkung trockener Luft auf die Schleimhäute, andererseits weil in trockener Luft die überall vorhandenen Fein- und Feinststäube mobiler sind. Zudem: selbst bestens gereinigte Teppiche begünstigen die Feinstaubmobilität!

Eines der Standardthemen der Schweizerischen Gebäudekultur ist die „Ringhörigkeit“ – das mag zwar ein Problem des hohen Anspruchs an die Individualität und „die eigenen vier Wände“ sein. Neuere Entwicklungen der Baukultur wie Minergie sollten allerdings den Schutz vor unerwünschten Geräuschen und Telefonieübertragungen zwischen Wohnungen zwingend einbeziehen. Es geht nicht an, hier dem Kostendruck nachzugeben oder ungeeignete Produkte zu akzeptieren.


Franz Beyeler wirkt in seinen Antworten häufig abwimmelnd, weil er als Ursache für festgestellten Mängel einzig handwerklichen Pfusch ortet. Dies ist definitiv zu einfach. Denn: bis jetzt waren es häufig die fähigsten PlanerInnen, die Minergie-Bauten erstellt haben, auch diese haben dabei dazugelernt – immer mehr wird Minergie zum breiten Baustandard – es kann auch sein, dass seit dem Beginn der Planungsarbeiten weitere Aspekte in die Qualitätssicherung eingeflossen sind. Neue Bauten, über die heute die ersten Betriebserfahrungen vorliegen, wurden vor mindestens 5 Jahren konzipiert. Die Stadtzürcher Wohnsiedlung Werdwies (entgegen dem NZZaS-Artikel nicht Minergie-zertifiziert, aber etwa den Vorgaben von Minergie entsprechend) entstand in den Jahren 2005 bis 2007 als Ersatzneubau am Ort der früheren Siedlung Bernerstrasse. Der Architekturwettbewerb wurde 2002 durchgeführt, die Ergebnisse der Befragungen lagen Ende 2009 vor. Im NZZaS-Artikel heisst es etwa dazu: 41% der befragten Personen waren mit der automatischen Lüftung mittelmässig oder gar nicht zufrieden. Man kann diese Ergebnisse so interpretieren – allerdings gaben etwa 3/4 der Befragten der Lüftung Note 4 oder besser (nach Schweizer Schulpraxis also mindestens genügend).

Minergie ist ein sich weiterentwickelnder Standard der Baukultur dauernd wandelt; daher ist es zentral, dass Wahrnehmungen von NutzerInnen – seien diese nun „gefühlt“ oder messtechnisch belegbar – zwingend in die Weiterentwicklung einfliessen. Das passiert auch – Minergie 2010 entspricht nicht mehr Minergie 2002! Der NZZaS -Artikel tut so, als müsse man das nächstes Jahr auf den Markt kommende iPhone 5 vergleichen mit einem der ersten Handyies aus Anfang der 90er-Jahre. Angesichts der langen Entwicklungs- und Lernzyklen und der sehr vielen Beteiligten an einem Bau- und Nutzungsprozess ist es ganz einfach: selbst 2010 ist man immer noch daran, die „Kinderkrankheiten“ der ersten Generation von Minergie-Bauten zu erkennen und zu behandeln! Anders funktionieren nun mal Innovationsprozesse nicht! Im übrigen sind auch Nicht-Minergie-Bauten nicht frei von banalsten Anfängerfehlern – siehe die breite Bauschaden-Geschichtsschreibung!

Spannend ist im NZZaS-Artikel der Beizug eines Baubiologen – nun hat diese metaphysische Richtung des Bauens die Eigenart, dass Aussagen auch einen Glaubenshintergrund haben. Herr Watter meint im wesentlichen, wegen diffusionsoffener Konstruktionen könne der gesamte erforderliche Luftaustausch bei baubiologischen Bauten über die Hülle erfolgen. Tja, dazu ist tatsächlich viel Glaube erforderlich – physikalisch „wissen“ nämlich die angesprochenen Bauteile nicht, was die BaubiologInnen von ihnen erwarten. Der für hygienische Wohnverhältnisse erforderliche Feuchtigkeits- und Luftaustausch lässt sich ohne Verletzung fundamentaler physikalischer Gesetzmässigkeiten nicht durch gleichzeitig diffusionsoffene und winddichte Konstruktionen hindurch bewegen – eine ausgleichende Wirkung auf die Raumluftfeuchtigkeit durch diffusionsoffene Wandoberflächen ist demgegenüber ohne Probleme möglich. Simpler Unsinn ist die Aussage, in (gut gedämmten) Gebäuden sei eine Lüftung darum erforderlich, um Schimmel zu verhindern. Nochmals, auch an die BaubiologInnen: eine Lüftung für ein Wohngebäude braucht es darum, um den hygienisch notwendigen Luftwechsel herbeizuführen. Zwar kann man dies auch mit 3 bis 5 mal täglicher Stosslüftung erreichen, spätestens in einem Gebiet mit Fluglärm ist dies ziemlich unangenehm – und eine Wärmerückgewinnung aus der warmen, feuchten Raumluft ist auf diese Art sicher nicht möglich. Interessant auch die Aussage des Baubiologen, erst das neue Label Minergie-Eco berücksichtigte die Qualität der verwendeten Materialien bis zu einem gewissen Grad. Nun, ich habe mich schon zum Thema Innovationsgeschwindigkeit im Bauwesen geäussert – mag deshalb sein, dass das bereits 2006 eingeführte Label Minergie-Eco tatsächlich noch neu ist …


Festzuhalten ist, dass sich auch zu diesem Thema die Individualität der Baumarkt-AkteurInnen zeigt, ähnlich wie bei den eigenartigen Ausführungen der ETHZ-DARCH-Professoren. Fakt ist, dass dies im Markt dazu führt, dass sehr viele willige AkteurInnen verunsichert werden über die angemessenen Massnahmen zur Energieeffizienz, zur Nutzung erneuerbarer Energien und damit zum Klimaschutz. Dies führt erfahrungsgemäss dazu, dass der Sanierungsstau noch grösser wird! Es ist endlich an der Zeit, die individuellen Egoismen zu vergessen und eine Konsensstrategie auf dem Weg in die 2000-Watt-Gesellschaft zu entwickeln. Ein guter Ansatz dazu: der Gebäudestandard der Energiestädte!


Erste Fassung 20.12.2010, Ergänzung 12.1.2013