Kanton Zürich: vom Klima-Deal zum Klimaschmutz-Deal

Seit 2015 sollte der Kanton Zürich die vor allem auf Gebäude bezogenen Vorgaben der «Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich 2014 (MuKEn)» ins kantonale Energiegesetz übertragen. Der bald zwei Jahre im Amt tätige Baudirektor Dr. Martin Neukom hat zur Umsetzung einen Klima-Deal gemacht. Vor allem unter dem Einfluss der FDP ist allerdings daraus in der Kantonsrats-Beratung ein Klimaschmutz-Deal geworden.

Was ist eigentlich im Interesse der Gesellschaft zum Schutz des Weltklimas zu tun? Dazu zwei Zitate aus einem früheren Blogbeitrag:

Wie viel an Treibhausgasen darf noch ausgestossen werden, um die Klimaerhitzung auf ein gesellschaftliches verträgliches Mass zu begrenzen? Ein Ansatz dazu ist das Klimabudget. Wenn die (maximale) Erhöhung der globalen Erhitzung auf 1.5 Kelvin mit 66 Prozent wahrscheinlich erreicht werden soll, hat die Schweiz bis 2039 Netto-Null-Emissionen zu erreichen.

So schnell als möglich – ideal bis 2030 – ist die Energieversorgung zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien abzustellen. Ebenso sind bis dann null Treibhausgas-Emissionen zu erreichen. Dabei ist zu beachten: «Erdgas ist keine Brückentechnologie, sondern höchst klimaschädlich und muss bis 2030 beendet werden». (Hans-Josef Fell)

Der Klima-Deal von Martin Neukom hätte diese Vorgaben – ideal bis 2030, spätestens bis 2039 – nicht einhalten können. Schon dies ein Demokratieversagen, vielleicht sind dies auch die Limiten des Konkordanz-Systems.

Die in der zweiten Märzhälfte 2021 bekannt gewordene Einflussnahmen insbesondere der FDP zur Abschwächung des Klima-Deals verzichten für das Beheizen und die Wassererwärmung von Bauten mittel- bis langfristig auf den umfassenden und längst fälligen Wechsel zu erneuerbaren Energien. Zudem kommt fossilem Erdgas weiterhin eine tragende Bedeutung zu. Aus dem Klima-Deal ist ein Klimaschmutz-Deal geworden.

Das Versagen der Eigenverantwortung

Die FDP gibt vor, im Interesse jener Gebäude-Eigentümerschaften zu handeln, die bis jetzt zu wenig für den Gebäudeunterhalt getan haben. Die FDP behauptet ja immer, für den Klimaschutz sei «Eigenverantwortung» ausreichend – genau die Begründung für den Übergang zum Klimaschmutz-Deal zeigt allerdings, dass Eigenverantworttung nicht tauglich ist zum Umgang mit derartigen gesellschaftlichen Herausforderungen.

Einige Zahlen:

  • Aus einer Publikation des Bundes: Umfassende Massnahmen sind meistens nach 40–50 Jahren notwendig: Erneuerung Gebäudehülle und Gebäudetechnik, Installationen, gesamter Innenausbau usw. Je nach Umfang der Massnahmen kann der Zustandswert des Gebäudes nach einer umfassenden Erneuerung unter oder über dem Neubauwert liegen.
  • Aus der «Paritätischen Lebensdauertabelle (MV/HEV Schweiz): Bewertung von Einrichtungen»:
    • Hinterlüftete Fassadenverkleidung, Platten: 30 Jahre
    • IV-Fenster (Holz, Holz-Metall, Kunststoff): 25 Jahre
    • Kompaktfassade, kunststoffvergütete Fassadenputze (auf Mauerwerk): 25 Jahre
    • Wärmedämmung im Dach, Estrich, Keller: 30 Jahre
    • Heizkessel: 20 Jahre

Die Geschichte der Energievorschriften im Gebäudebereich ist sehr lang: bereits 1975 gab es erste Verbrauchsvorgaben, 1992 entstand die Musterverordnung rationelle Energienutzung in Hochbauten – die MuKEn 2014 stellt gemäss den Kantonen eine konsequente Weiterentwicklung der Versionen der Jahre 2000 und 2008 dar. Oder anders: Gebäude, die seit 1975 gebaut oder umfassend erneuert wurden, sind im Grundsatz geeignet, um mit einer Wärmepumpe beheizt zu werden. Auf jeden Fall gilt dies für Bauten, die seit 1992 gebaut oder umfassend erneuert wurden.

Rechne: 2021 minus 1992 gibt 29 Jahre, 2021 minus 1975 46 Jahre. Schwierigkeiten, wie sie von der FDP geltend gemacht wurden, gibt es nur bei Bauten, bei denen die Eigentümerschaften die Regeln der Baukunst nicht beachtet haben (oder zum Beispiel wegen Schutzvorgaben nicht beachten konnten).

Weil ja die fossile Lobby nicht nur im Kanton Zürich sehr aktiv ist – es gibt da beispielsweise den Heizöl- und Erdgas-Verein (HEV) –, ist leider zu befürchten, dass die Bestimmungen des Klimaschmutz-Deals sehr aktiv genutzt werden dürften.

Zur Wiederholung: Langfristig ist der Einsatz von Erdgas – auch unter Beimischung von Biogas – im Gebäudebereich NICHT sinnvoll   

Nicht völlig neu, aber neulich wiederholt, ist diese Aussage: Erdgasausstieg bis spätestens 2038 – Nord-Stream 2 wird nicht gebraucht, sagt Professorin Claudia Kemfert, die auch die Bundesregierung berät. Für das Pariser Klimaziel brauche es einen „Erdgasausstieg bis spätestens 2038“, so Kemfert im DW-Interview vom 25. März 2021.

Sehr fremd wirkt die Aussage in einer Medienmitteilung der Energie 360° AG vom 29. März 2021: 100 % erneuerbare Energie bis 2050. Energie 360° AG ist eine Firma mit massgeblicher Beteiligung der Stadt Zürich und unter anderem prägend für die Erdgasversorgung in und um Zürich. Holzpellets und Biogas sind derzeit Aktivitäten dieser Firma mit erneubaren Energien.

Nach den Zahlen Stand März 2021 werden 17.9 Prozent des Gas-Direktabsatzes als Biogas bezeichnet ( 82.1 Prozent sind also immer noch fossiles Erdgas). Fünf Sechstel dieses Biogases werden im Ausland produziert, und zwar in Dänemark, Ungarn und Deutschland, im Mittel mehr als 900 Kilometer von Zürich entfernt. Im gesamten Netz ist der Biogas-Anteil deutlich geringer. Formal ist alles korrekt: das Biogas strömt nicht physikalisch nach Zürich, sondern virtuell mittels Zertifikaten.

Nur: Sollte die Aussage von Professorin Claudia Kemfert für spätestens 2038 zutreffen, funktioniert dannzumal der virtuelle Biogashandel nicht mehr. Mag sein, dass bis 2038 Wasserstoff und/oder synthetische Gase eine gewisse Bedeutung haben. Für die Beheizung von Gebäuden und die Wassererwärmung werden derartige Gase kaum eine Rolle spielen! Dann steht für Zürich nur noch das Biogas aus der Region zur Verfügung – im Wissen darum, dass dieses Biogas häufig mit nicht tiergerechter Landwirtschaft und Food-Waste im Zusammenhang steht und damit zukünftig das Potenzial eher beschränkt ist.

In Gebäuden werden zukünftig Wärmepumpen die Wärmeversorgung in Kombination mit elektrischer und thermischer Sonnenenergienutzung abdecken, idealerweise in Plusenergiebauten – auch in Gebäuden wird die Prosumer-Strategie prägend! Einfach noch dies: um eine Einheit Nutzwärme zur Verfügung zu haben, braucht es 1.1 bis gegen 1.2 Einheiten an Endenergie aus Heizöl und/oder Erdgas/Biogas. Wird eine Wärmepumpe eingesetzt, braucht es für eine Einheit Nutzwärme 0.2 bis 0.5 Einheiten Endenergie, in der Regel Strom. 

Im Jahr 2021 Lösungen mit Erdgas und Biogas für die Wärmeversorgung von Bauten für die nächsten 20 Jahre gesetzlich vorzugeben ist offensichtlich eine Sackgasse – eine direkte Folge der offenbar erfolgreichen Propaganda-Arbeit der Erdgas-Lobby. Auch dieser Weg ist somit ein Beitrag zum von der FDP vorgeschlagenen Klimaschmutz-Deal.

Die Energie 360° AG sollte endlich eine echte Nachhaltigkeits-Strategie entwickeln. Und die Stadt Zürich tut gut daran, angesichts des nach wie vor sehr hohen fossilen Anteils am Umsatz dieser Firma das schon längst fällige und andernorts bereits umgesetzte Divestment-Szenario umzusetzen.

Bezeichnend für die Fossil-Lobby, dass der Heizöl- und Erdgas-Verein (HEV) möglicherweise gegen (FDP-)Klimaschmutz-Deal das Referendum ergreift. 

Sichtweite des Kantonsrates offenbar höchstens bis zu den nächsten Wahlen

Es ist nicht erkennbar, warum die Mehrheit des Kantonsrates mit dem Klimaschmutz-Deal einverstanden ist, ihn sogar gut findet. Ob dies damit zu tun hat, dass bereits 2023 wieder Kantonsrats-Wahlen anstehen? Allerdings sieht eine enkelInnentaugliche Politik deutlich anders aus.


Ein technischer Anhang

Als Ingenieur beschäftige ich mich seit langen Jahren mit den technischen Aspekten der Wärmeversorgung von Bauten. Meine Absichten waren immer, den Komfort – Raumwärme im Winter und Warmwasser ganzjährig – mit ausschliesslich erneuerbaren Energien möglichst effizient zu gewährleisten.

90/70 – diese Zahlenkombination meint die bei Auslegungsbedingungen anzutreffenden Vor- und Rücklauftemperaturen in typischen Ölheizsystemen.  Mit der Rücklauftemperatur von 70 °C konnte das Auskondensieren des Rauchgases in den früheren Heizkesseln verhindert werden. 

Diese hohen Temperaturen wirkten sich auch im Alltag aus: reklamierten die Gebäudenutzenden über zu tiefe Raumtemperaturen, konnte einfach die Vorlauftemperatur leicht angehoben werden.

Auch wenn unterdessen aus verschiedenen Gründen eher 50/40 oder noch tiefere Werte das Wärmeabgabesystem bei Auslegungsbedingungen bestimmen – mit separaten Ansätzen für die Wassererwärmung –, ist die gewohnte Korrektur der Vorlauftemperaturen bei Reklamationen leider immer noch die Regel.  

Besser wäre eine Messung der realen Raumtemperaturen und die Ermittlung der Ursachen. In den meisten Fällen würde es reichen, allfällige lokale thermische Schwachstellen der Gebäude zu flicken oder situativ einzelne Heizkörper durch leicht grössere Apparate zu ersetzen.

Wärmepumpen arbeiten effizienter, wenn die zu erreichenden Vorlauftemperaturen möglichst tief sind. Wenn die Wärmeabgabe wie oben beschrieben optimiert wird, ist dies eigentlich in jedem Gebäude möglich. Allerdings verlangt dies eine längerfristige Umsetzungsstrategie.

Es reicht nicht, bei einem Ausfall der Öl- oder Gasheizung subito einen neuen Wärmeerzeuger zu installieren! Dazu sind auch mittel- bis langfristige Strategien zu einer energetischen Gesamterneuerung einzubeziehen. Es empfiehlt sich, für jedes Gebäude einen «Umstiegsplan» für die Versorgung mit 100 Prozent erneuerbaren Energien – im Zeitraum ideal 2030 bis spätestens 2039 – zu erstellen und danach vorzugehen (siehe dazu auch «Plan W. 2039. Wir alle wollen.»). Dies ist ein Ansatz, der die gesellschaftlichen Anliegen zum Schutz des Weltklimas und den individuellen Möglichkeiten ideal zusammenbringt.

Der Klimaschmutz-Deal wie im März 2021 im Zürcher Kantonsrat verhandelt kann diesen Anspruch nicht erfüllen.