Die Schweiz pflegt zu Recht die direkte Demokratie, voraussichtlich das zweitbeste politische System. Die vier jährlichen Abstimmungstermine mit häufig Wahlen und Abstimmungsvorlagen auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene, das Initiativ- und Referendumsrecht der Stimmberechtigen, aber auch die Parlamente bei Bund, Kantonen und grösseren Städten sind Ausprägungen dieser direkten Demokratie. Aus Tradition wird für die Legislativen das Milizprinzip hochgehalten – Mitglieder der Legislativen üben ihre parlamentarischen Aufgaben nebenberuflich aus. Die allgemeine Meinung geht davon aus, dass dies erforderlich ist, damit LegislativpolitikerInnen gut im realen Leben verankert sind und es nicht zu einer „abgehobenen“ PolitikerInnen-Kaste komme. Was ist davon zu halten?
Die so genannte „Affäre Mörgeli“ – die Entlassung des $VP-Nationalrats Christoph Mörgeli als Oberassistent und Konservator des Medizinhistorischen Museums wegen (nach Ansicht der Universität Zürich) ungenügender Leistung und die damit verbundenen „Kollateralschäden“, u.a. Folgeentlassung von Titularprofessorin Iris Ritzmann, sind gleichzeitig auch eine „Affäre Milizprinzip“.
Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli hat seine Arbeitsbelastung als Parlamentarier während rund sieben Monaten erfasst. Reisezeiten sind dabei ebenso wenig berücksichtigt wie parteiinterne Engagements, welche von Legislativmitgliedern zwingend erwartet werden, ebenso weitere Engagements, die direkt oder indirekt mit dem Nationalratsmandat gekoppelt sind (Vorstände von nationalen Organisationen etwa schätzen den Einsitz von Legislativmitgliedern sehr). Balthasar Glättli kommt mit den ausgewiesenen 29 Wochenstunden für das eigentliche Nationalratsmandat auf einen 70-Prozent-Teilzeit-Job. Balthasar Glättli hält klar fest, dass dies zu viel ist, um dies neben einem normalen Job nebenbei machen zu können. Klar ist: „nebenberuflich“ im Sinne des Milizprinzips lässt sich zumindest auf nationaler Ebene das Parlamentsmandat nicht ausüben! Da der Hauptberuf bei ParlamentartierInnen von der öffentlichen Meinung vorausgesetzt wird, kommt dies in solchen Situationen zu häufigen Abwesenheiten während den Ratssitzungen, was nicht nur von den Medien wiederum kritisiert wird.
Heisst die Alternative zwingend Berufspolitikerin? Vorerst: warum nur schon der Begriff „BerufspolitikerIn“ aus Prinzip negativ vorbelastet ist, kann ich nicht nachvollziehen. Es wäre möglicherweise erforderlich, das Jobprofil und die Anforderungen an BerufspolitikerInnen zu definieren – möglicherweise würde zum Vorschein kommen, dass die Realität zumindest auf nationaler Ebene bereits heute das Milizprinzip verabschiedet hat; die von Balthasar Glättli ausgewiesenen 70 Stellenprozente sind ein deutlicher Hinweis in diese Richtung.
Was macht BerufspolitikerInnen oder – wer dies lieber sieht – Miliz-PolitikerInnen aus Leidenschaft aus? Im Vordergrund stehen kommunikative, vermittelnde und prozessgestaltende Fähigkeiten. Erfolgreiche Politik schafft es, die durchschnittliche Unzufriedenheit der StaatsbürgerInnen zu minimieren. Es geht darum, die Interessen einer grossen Zahl von „Randgruppen“ zu einer mehrheitsfähigen Vorgehensweise zusammenzubringen. Überblickendes Grundwissen in vielen Fachbereichen ist von Vorteil – spezifische Fachkenntnisse in einzelnen Teilbereichen sind eher nachteilig, da Demokratien eben Demokratien und keine Expertokratien sind. Grundsätzlich sind derartige Fähigkeiten an vielen Orten in Wirtschaft und Gesellschaft erforderlich – und wie gerade das Beispiel von Balthasar Glättli, aber auch von vielen anderen ParlamentarierInnen zeigen, werden derartige Fähigkeiten auch bei z.B. Vorstandsaktivitäten, Arbeitsgruppen usw. sehr geschätzt. Da gerade PolitikerInnen immer wieder verschwörungstheoretischen Thesen unterstellt werden, ist die Transparenzschaffung über Aktivitäten und Engagements von grosser Bedeutung, Balthasar Glättli und Cedric Wermuth haben da einiges zu bieten. Auch die parlamentarische Tätigkeit in eienr direkten Demokratie ist ein Argument mehr für das bedingungslose Grundeinkommen für alle!
Ein spezieller Aspekt, immer wieder in Zusammenhang mit Initiativen, Referenden und Walen zu beobachten: warum eigentlich wird über die riesigen Beträge für klassische PR-Kanäle nicht diskutiert, aber die Bezahlung von Nicht-Parteimitgliedern für öffentliche Präsenz kritisiert – ob z.B. die Unterschrift für eine Initiative auf klassischem PR-Weg oder mit bezahlten SammlerInnen etwa fünf Franken kostet, kommt letztlich auf das gleiche heraus – nur auf der Strasse freiwilliges Engagement zu verlangen, ist geradezu lächerlich.
Und dann die Sache mit dem realen Leben! Was meint das genau? Nicht erst mit den absurden Aktivitäten der $VP hat sich eine geradezu narzisstische Grundhaltung in Gesellschaft und Politik breit gemacht: nur die eigene letztlich willkürliche Sicht der Dinge gilt als einzige Wahrheit – jede andere (eingestandenermassen ebenso willkürliche) Sicht der Dinge gilt aus Prinzip als untergeordnet. Oder anders: es gibt in der Schweiz über acht Millionen reale Leben – wieso soll das Leben z.B. einer Kassierin bei Coop oder Migros realer sein als das Leben einer Nationalrätin oder eines Nationalrats?
Die direkte Demokratie sei das zweitbeste politische System, habe ich oben geschrieben. Warum nicht das Beste? Ganz einfach: alles ist verbesserungsfähig!