Auf Antrag des Zürcher Heimatschutzes hat das Bundesgericht Ende 2020 verlangt, dass die Stadt Zürich einen Schutzumfang für die ersten zwei Siedlungen der Familienheim-Genossenschaft Zürich festzulegen hat. Im Hinblick auf lebenswerte Wohnquartiere könnte jedoch «Denk mal» zielführender sein als «Denkmal».
Dieser Text von Toni W. Püntener ist in «P.S., die linke und unabhängige Zürcher Zeitung» vom 26. März 2021 auf den Seiten 16 und 17 erschienen.
1925 entstand im Friesenberg nahe der heutigen Uetlibergbahn-Haltestelle Schweighof die erste Siedlung der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ): 5-Zimmer-Reihenhäuser in Zweier- und Dreiergruppen, zum Teil zusammengebaut mit dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern, dazwischen grosse Freiräume. Kurz darauf entstand beidseitig der Schweighofstrasse die zweite Siedlung der FGZ, in einem ähnlichen Stil, aber doch mit deutlich abweichenden Details.
Gebäudegruppe der ersten Etappe der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ)
Als ich 1996 zusammen mit meiner Familie in eines der Reihenhäuser einziehen konnte, dominierte der Jö-Effekt. Eher kleine Häuser, mit Schrägdach, einem Kamin – etwa so sehen die ersten von Kindern gezeichneten Häuschen aus. Dazwischen viel Rasen, hin und wieder einige Bäume und Sträucher. Schon bei Mietantritt wurde uns gesagt, diese Siedlung werde in absehbarer Zeit durch einen Neubau ersetzt, sowohl wegen des Alters als auch wegen der Besonderheiten der Siedlung. Schon damals war von «Austragen» die Rede. Somit wurden in all den Jahren nur minimale Unterhalts- und Erneuerungsarbeiten durchgeführt.
Unterschutzstellung für Jö-Effekt-Siedlungen?
Die Familienheim-Genossenschaft Zürich und die Stadt Zürich haben im März 2016 über einen in einem kooperativen Verfahren erarbeiteten Masterplan zur Ermöglichung einer sowohl quantitativen als auch qualitativen Verdichtung im Friesenbergquartier informiert. Aus vielen Gründen wurde damals sehr bewusst auf eine Unterschutzstellung der ersten zwei Siedlungen der FGZ verzichtet. Auf Antrag des Zürcher Heimatschutzes hat demgegenüber das Bundesgericht Ende 2020 verlangt, dass die Stadt Zürich einen Schutzumfang für diese beiden Siedlungen festzulegen hat.
Auch beim Bundesgerichtsentscheid war der Jö-Effekt prägend. Daher lohnt es sich, mit Blick auf die nachhaltige Zukunft des genossenschaftlichen Wohnens und somit des preisgünstigen Wohnraums hinter die Fassaden dieser Siedlungen zu schauen.
Am 7. März 2021 haben die Stimmberechtigten mit einem Ja-Anteil von fast 80 Prozent der Erstellung der Wohnsiedlung Letzi zugestimmt. Auf rund 10’000 Quadratmetern Stadtfläche entstehen 265 Wohnungen – Alterswohnungen, Familienwohnungen, mit einer grossen Bandbreite von Zimmerzahlen. Ebenso sind Gewerberäume, Büros und Ateliers vorgesehen. Dazu gehört ein Kindergarten mit Betreuung, es entstehen vielfältig gestaltete Aussenräume.
Die beiden Gründersiedlungen der FGZ bieten auf etwa 50’000 Quadratmetern Stadtfläche 144 Wohnungen, mehrheitlich 4- und 5-Zimmer-Wohnungen und -Reihenhäuser. Für eine massvolle Verdichtung, für qualitativ hochwertigen Wohn- und Lebensraum für mehr Menschen besteht somit ein sehr grosses Potenzial!
Stadt der kurzen Wege – möglichst lange im vertrauten Umfeld wohnen können
Die Siedlungen sind zu einer Zeit entstanden, als funktionale Entmischung, zum Beispiel von Wohnen und Arbeiten, zu den Anliegen der Stadtentwicklung gehörte; dies wurde 1933 in der «Charta von Athen» festgeschrieben. Dazu gehört auch die Verknüpfung der unterschiedlichen Stadtfunktionen mit leistungsfähigen Verkehrsachsen, hier zum Beispiel Schweighof- und Friesenbergstrasse. Die Uetlibergbahn und die Buslinien tragen zur Anknüpfung an das Stadtzentrum und die naheliegenden Quartiere bei.
Spätestens mit der «Leipzig-Charta» aus dem Jahr 2007 zur nachhaltigen europäischen Stadt steht die integrierte Stadt im Mittelpunkt. Idee dahinter ist die Stadt der kurzen Wege.
Die beiden FGZ-Siedlungen verstärken die als überholt geltende funktionale Entmischung. Die überwiegend vorhandenen 4- und 5-Zimmer-Wohneinheiten richten sich an Familien mit Kindern. Für junge Erwachsene und für SeniorInnen sind diese Wohnungen nicht vorgesehen.
Gebäudegruppe der zweiten Etappe der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ)
Heutige Wohnsiedlungen sind auf das Mehr-Generationen-Wohnen auszurichten. Eine der Absichten des gerade kürzlich vom Gemeinderat zur Kenntnis genommenen städtischen Alterskonzeptes ist es, dass ältere Menschen möglichst lange in ihrem vertrauten Umfeld wohnen können. Auch die FGZ muss mehr Mehr-Generationen-Wohnen anbieten können!
Stadt der kurzen Wege bedeutet auch, gerade mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen zum Home-Office, dass Menschen nur kurze alltägliche Wege zwischen zum Beispiel Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Erholung und Ausbildung zurücklegen müssen. Eine ausschliesslich auf das Wohnen ausgerichtete eher grossflächige Siedlung mag diesen Anforderungen nicht zu genügen.
Baustandard 1925 ist nicht zukunftsfähig
Knapp über 100 Quadratmeter Nutzfläche bietet ein 5-Zimmer-Reihenhaus. Wenn von vier bis fünf Personen ausgegangen wird, die ein solches Haus bewohnen, entspricht dies den Vorgaben für die suffiziente Nutzung von Wohnraum. Allerdings weisen einzelne Räume sehr kleine Flächen auf, eigentlich unter den Vorgaben des Planungs- und Baugesetzes.
Die beiden Siedlungen sind im FGZ-Verbund als eigentliche Energieschleudern zu bezeichnen. Diverse bauliche Schwachstellen erhöhen zudem das Risiko zum Beispiel für Schimmelpilzbildung, mit möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner. Würden die Häuser unter Schutz gestellt, dürfen in der Regel bauliche Massnahmen zur Verbesserung der energetischen Qualität der Gebäudehülle von aussen nicht sichtbar sein. Die umfangreichen und aufwändigen baulichen Verbesserungen müssten somit raumseitig erfolgen, was zu einer weiteren Reduktion der Nutzflächen führt. Zudem ist fraglich, ob diese Massnahmen ausreichen, die gesundheitlichen Risiken zu minimieren.
Längerfristig ist als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung dafür zu sorgen, dass alle Gebäude als Plusenergiebauten funktionieren. Dies erfordert weitere von aussen sichtbare Veränderungen an den heutigen Bauten. Als Hinweis: die diversen derzeit in Entstehung begriffenen Nieder- und Hochtemperatur-Wärmenetze sind bestenfalls Brückentechnologien zum raschmöglichsten Ausstieg aus den fossilen Energien.
Unterdessen wohne ich in einer Neubau-Wohnung der der FGZ in einem anderen Teil des Friesenbergs. Was auffällig ist am neuen Ort: die akustischen Verbesserungen. Im Reihenhaus waren viele Geräusche aus dem Nachbarhaus und dem eigenen Häuschen zu hören. Konzentriertes Arbeiten im Home-Office, die Teilnahme an einem virtuellen Meeting oder früher die Hausaufgaben der SchülerInnen und Studierenden sind recht schwierig. Eine deutliche Verbesserung der akustischen Situation erfordert massive bauliche Eingriffe.
In der Stadt Zürich sind erhebliche Auswirkungen der Klimaerhitzung zu erwarten. Wohnungen müssen so gebaut werden, dass zukünftig im Sommer komfortable Raumbedingungen möglich sind. 1925 war diese Vorgabe noch nicht zu berücksichtigen.
Der Friesenberg liegt auf historischem Uetliberg-Lehm. Die Folgen der Klimaerhitzung führen dazu, dass sich dieser Untergrund anders bewegt als in den letzten hundert Jahren. An verschiedenen Bauten im Friesenberg-Quartier sind bereits grössere Rissbildungen festzustellen. Es gibt keine Gewähr dafür, dass die Statik der beiden Siedlungen tatsächlich zukunftstauglich ist; erhöhte Gefahren für die Bewohnenden können nicht ausgeschlossen werden.
Festgebackene Rollenmodelle
Die Küchen der beiden Gründersiedlungen sind eher kleine Räume. Insbesondere besteht keine durchgehende Verbindung zur Stube der jeweiligen Wohnung. Hier zeigt sich einerseits die Rollenverteilung innerhalb der Familien zur Bauzeit; andererseits dürfte dies eine Folge der damals installierten Kochherde mit Holz- oder Brikettfeuerung sein. Als ein Detail: Obwohl seit langer Zeit elektrische Herde und Backöfen genutzt werden und die Wärmeversorgung ab einer Heizzentrale erfolgt, verfügt jedes Haus nach wie vor über einen von aussen sichtbaren Kamin – ohne jeglichen Nutzen, aber mit einigem Unterhaltsaufwand.
Gartenstadt? Da liegt mehr drin
In der Berichterstattung über das Friesenberg-Quartier ist immer wieder der Begriff «Gartenstadt» zu lesen. Viel Abstandsgrün respektive Rasen, einzelne Büsche und Bäume und sehr wenige kleine Gartenflächen prägen das Bild, möglichst unter Berücksichtigung der Artenvielfalt und der naturnahen Gestaltung. Diese Ausprägungen der Gartenstadt haben bestenfalls Auswirkungen auf den Jö-Faktor des Quartiers.
Der lehmige Untergrund ist alles andere als ideal für das Gärtnern, zudem führen Häuser, Hecken, Sträucher und Bäume zu einer ausgeprägten Beschattung.
Auch sind für Kinder und Jugendliche gemeinsam nutzbare öffentliche Räume eher bescheiden. Dazu kommt, dass die siedlungsinterne Strasse trotz einer später gebauten Tiefgarage intensiv mit Autos zugestellt ist.
Nein, eine Gartenstadt ist der Friesenberg nicht. «Urban Farming» und zukunftsfähige Stadtbegrünung, zum Beispiel in Kombination mit Sonnenenergie-Nutzung, sehen wesentlich anders aus. Grössere gemeinschaftlich nutzbare Aussenräume bieten auch weitere Chancen für ein generationengerechtes Quartierleben.
«Denk mal» statt «Denkmal»
Die FGZ treibt viel Aufwand für den Unterhalt und die Erstellung lebenswerter Wohnquartiere. «Denk mal» ist dabei erfahrungsgemäss zielführender als «Denkmal». Daher sollte auf den Schutz der beiden Gründerquartiere verzichtet werden. Wenn die Ansätze der Kreislaufwirtschaft umgesetzt werden, ist das Abreissen von bestehender Gebäudesubstanz auch nachhaltig möglich.
Falls für diese FGZ-Siedlungen tatsächlich ein Schutzumfang festzulegen ist, sollte dieser als «Friesenberg»-Museum auf zum Beispiel das Genossenschaftshaus an der Kreuzung Schweighof- und Friesenbergstrasse und auf einige wenige Gebäude entlang der beiden Strassen beschränkt werden. Die wenig nachhaltige Bewältigung uralter Bausubstanzen von zwei grossflächigen Wohnsiedlungen kann nicht einmal als Beitrag zur Erinnerungskultur betrachtet werden.
2025 feiert die FGZ das hundertjährige Jubiläum. Die verfassungsmässige Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung – eine für die Gesellschaft und die Umwelt vorteilhafte Ausprägung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte – sollte die Zukunftsgestaltung des gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnens prägen.
Toni W. Püntener
FGZ-Genossenschafter, Energie- und Klima-Mentor
Dieser Text ist zuerst in «P.S., die linke und unabhängige Zürcher Zeitung» vom 26. März 2021 auf den Seiten 16 und 17 erschienen. Ein Abonnement der jeweils am Freitag erscheinenden Wochenzeitung ist empfehlenswert.