Nach dem Abstimmungssonntag vom 23.9.2012: wie immer durchzogen

Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass Mehrheiten variabel sind, dass die Stimmberechtigten konservativ und eigennützig entscheiden – und dass Stimmberechtigte durchaus käuflich sind. All dies zeigt sich einmal mehr an den Ergebnissen des Abstimmungssonntags 23. September 2012 – mit einigen nicht unwichtigen Differenzierungen.

Nahezu zwei Drittel der BewohnerInnen der Schweizer wohnen in Mietobjekten – es ist klar, dass es Vorlagen wie die Initiative „Sicheres Wohnen im Alter“, die einzig die Sicht von Einfamilienhaus-Besitzenden einnehmen, in der Schweiz schwer haben. Dass die Stimmenverhältnisse nicht sehr eindeutig sind, hat damit zu tun, dass GebäudeeigentümerInnen einen höheren Anteil an den Stimmberechtigten als an der Wohnbevölkerung ausmachen und zudem in der Tendenz häufiger an Abstimmungen teilnehmen.

Drei Initiativen aus dem Umfeld des Schweizerischen Hauseigentümerverbandes sind in letzter Zeit mehr oder weniger knapp abgelehnt worden. Gerade in Städten ist der gemeinnützige, genossenschaftliche Wohnungsbau von grosser Bedeutung. Dies heisst: es braucht endlich einen neuen Zugang zum Thema Wohneigentum – weder das freistehende Einfamilienhaus noch das Stockwerkeigentum sind aus unterschiedlichen Gründen zukunftsfähig. Es braucht in diesem Land vermehrt Wohnformen, die ein lebensabschnittsabhängiges Mitgestaltungsrecht ermöglichen – Wohnbaugenossenschaften und Wohnnutzungsrechte statt Wohneigentum sind politisch zu fördern.


Die Erkenntnisse, dass mit neuen Strassenbauten die Sicherheit für Schülerinnen und Schüler auf ihrem Schulweg nicht verbessert werden kann und dass neue Strassen einfach noch viel mehr Strassenverkehr verursachen, sind noch nicht bis in die Dörfer vorgedrungen – schon gar nicht, dass noch mehr Strassenverkehr für noch mehr Mensch gemachten Klimawandel sorgt. Demokratie ist kein geschlossenes Verantwortungssystem! Auch wenn der Beschluss für einen neuen Autobahnanschluss in Obfelden/Ottenbach eine satte Mehrheit erreicht hat, ist dieses Vorhaben mehr als abstrus!


Das Ja der Stimmberechtigten zur Abschaffung des konstruktiven Referendums ist eine direkte Folge der Trotzhaltung und demokratischen Unfähigkeit der „bürgerlichen“ Parteien. Auch im Kanton Zürich macht die demokratische Mitwirkung eine Schritt rückwärts!


Es ist schon lange bekannt, dass InitiantInnen einen sehr reichlich gefüllten Finanztopf brauchen, um ihrem Initiativbegehren zum Durchbruch zu verhelfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn damit die ökonomischen Interessen mächtiger Lobbies oder der internationalen Mafia betroffen sind – die Tabakwirtschaft ist definitiv eine solche Mafia. Interessant insbesondere die Argumentation jener Politiker (fast keine Innen!) und Medien, die sich von dieser Mafia haben kaufen lassen: da kamen ganz neue Verständnisse von „liberal“ zum Vorschein – was es mit „liberal“ zu tun haben soll, dass NichtraucherInnen ohne es zu wollen einer erheblichen gesundheitlichen Belastung durch Passivrauchen ausgesetzt werden, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Oder anders: das Wort „liberal“ ist definitiv in der Worthülsenbeliebigkeit angekommen! Darum nochmals die dringliche Aufforderungen an InitiantInnen: bitte ein Volksbegehren nur zur Abstimmung bringen, wenn genügend Ja-Stimmen „gekauft“ werden können respektive genügend WählerInnen durch Politmarketing von einem Ja überzeugt werden können.


Zu erwarten war das Ja der Stadtzürcher Stimmberechtigten zur Neugestaltung des Sechseläutenplatzes – dass dieses Ja trotz der fehlerhaften Argumentationen von FDP, $VP und SD noch deutlicher ausgefallen ist als das Ja der Stimmberechtigten zur Städteinitiative im September 2011, bestätigt einerseits, dass die Stadtzürchern Stimmberechtigten in Verkehrsfragen anders ticken als die Stimmberechtigten ausserhalb der Stadt, zeigt aber auch, dass die städtebaulichen Vorstellungen der „Nein“-Parteien nicht mehrheitsfähig sind. Nun wird sich zeigen, ob der Zürcher $VP-Baudirektor Markus Kägi Rechtsstaat und Demokratie oder $VP-Windschutzscheibenoptik in den Vordergrund stellt. Nachtrag 11.12.2012: Der Antidemokrat, Antirechtstaatler, Antiökologe ist in diesem Fall nicht der Baudirektor Kägi, sondern Volkswirtschaftsdirektor Stocker (auch $VP).

Andererseits: einen kräftigen Konsens „Weg vom Auto“ gibt es auch in der Stadt Zürich definitiv nicht!

Am 23. September 2012 haben die Stimmberechtigten drei Mal gemäss meiner und vier Mal gegen meineEmpfehlungen gestimmt – ein einigermassen durchzogenes Abstimmungswochenende also!


Festzuhalten ist einmal mehr, dass die in der Stadt Zürich wohnenden Stimmberechtigten deutlich anders stimmen als im übrigen Kanton Zürich. Einmal mehr: es braucht endlich einen eigenständigen Kanton Zürich Stadt! Siehe dazu auch den Beitrag von Andreas Kyriacou (mit Interview im Tagesanzeiger vom 29.8.2009)