Machtgames statt Sachverstand

Auch wenn der Ausstiegsbeschluss 2000 in Deutschland viel zu wenig weit ging, hat er klare Verhältnisse geschaffen – SPD und Grüne haben den erforderlichen Energie-Hintergrund. Wie von den StromkonsumentInnen gewünscht, ist ein möglichst schneller Wechsel zu erneuerbaren Energien sicherzustellen. Dass eine bürgerliche Regierung diesen Beschluss ohne Sachverstand und ohne inhaltliche Begründung massiv verändert, und damit die Spielregeln einseitig zugunsten der grossen Energieversorgungsunternehmen abändert, lässt generell für die staatliche Energiepolitik wenig Hoffnung – auch für die Schweiz.

Die Atomenergie spielt energiewirtschaftlich betrachtet in den meisten Ländern, auch in Deutschland, eine marginale Rolle. Es gibt derzeit eine ganze Reihe von Studien, die einen möglichst schnellen Ausstieg aus der Atomenergie als zweckmässig, finanzierbar, ökologisch zielführend und zukunftsgerichtet einschätzen. Und es gibt keine einzige seriöse Studie, die der Atomenergie eine Zukunftsrolle zubilligt; selbst die gezinkte Laufzeitverlängerungsstudie im Auftrag der deutschen Bundesregierung ist alles andere als ein Argumentarium für Kernenergie. Offensichtlich ist: die deutsche Bundesregierung WOLLTE die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängern – dass sie mit dem Entscheid jetzt in die Nähe der Aussagen der Viererbande der grossen Anbieter gerückt ist, zeigt, dass der Entscheid in den Zentralen der Grossunternehmen und nicht von der Politik gefällt worden ist. Wenn nicht mehr der Sachverstand zählt, sind Schiebereien und Kungeleien nicht auszuschliessen – aber das gehört offenbar bei bürgerlichen Parteien in Mitteleuropa zum Machtgame. Es wird spannend sein, den Weg diverser MinisterInnen nach ihrem Rücktritt aus der deutschen Bundesregierung in die Atomwirtschaft zu verfolgen.

Atomenergie ist keine demokratieverträgliche Stromversorgungsmethode, Atomenergieaktien gehört nicht in die Portfolios ethisch und nachhaltig orientierter AnlegerInnen. Und die Atomenergiedebatte lenkt letztlich von der Energiepolitik ab.

Diverse Städte in Deutschland haben in den letzten Jahren Strategien entwickelt, wie sie raschmöglichst die gesamte Energieversorgung (oder wenigstens grosse Teile davon) auf zukunftsgerichtete erneuerbare Energien ausrichten – hier geht es also nicht nur um Strom. Und die Städte haben damit begonnen, diese Strategien umzusetzen. Unter anderem mit dem Ergebnis, dass bereits erkennbar ist, dass Atomkraftwerke nicht mehr in die energiewirtschaftliche Landschaft passen – unter anderem darum, weil sie nicht regulierbar sind und es bereits erhebliche Regulierungsprobleme im Netz gibt, bei den noch eher kleinen, allerdings schnell wachsenden Mengen an Strom aus erneuerbaren Energien. Es ist einigermassen überraschend, dass sich die deutsche Bundesregierung mit ihrem Lobbyentscheid zugunsten der Atomenergie ausgerechnet den aktiven Energiepolitiken der Städte entgegenstellt – dabei wäre es doch vornehme Aufgabe des Bundes, im Sinne der Subsidiarität das Agieren der Städte wohlwollend zu fördern und zu schätzen.

Dabei gäbe es auf nationaler Ebene ausreichend Handlungsbedarf: so gibt es nach wie vor keine konsistente Klimaschutzpolitik (die Atomenergie liefert nachweislich keinen Klimaschutzbeitrag), es gibt keine glaubwürdigen Konzepte für eine zukunftsgerechte Mobilität, es gibt keine Ansätze, wie der der riesige Bestand an Altbauten auf einen nachhaltigen Kurs gebracht werden kann, es gibt keine Umsetzungskonzepte für einen gesellschaftsverträglichen Ausbau der Stromnetze, es gibt keine echte Effizienz- und Sufffizienzpolitik. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben zudem gezeigt, dass die Energieversorgungspolitik in die Hände der Städte gehört – es hat energiepolitisch keinen Platz für Riesenunternehmen, die einzig auf Gewinnoptimierung ausgerichtet sind.

Stattdessen setzt die deutsche Bundesregierung einen Sonntag dafür, der deutschen Atomwirtschaft ein grosses Geschenk zu machen – verbunden mit lächerlichen Kompensationsgeschäften.

Die deutsche Bundesregierung hat keine Mehrheit der Stimmberechtigten hinter sich, ihre knappe numerische Mehrheit im Parlament hat sie den eigenartigen Wahlgesetzen zu verdanken. Sollte es je zu einem Regierungswechsel kommen, ist davon auszugehen, dass mindestens SPD oder Grüne, eher beide, zu dieser Regierung gehören werden – spätestens dann wird der sonntägliche Laufzeitverlängerungsbeschluss zur Makulatur.


Was hat dies mit der Schweiz zu tun? In der Schweiz wollen die grossen Stromversorgungsunternehmen sogar neue Atomkraftwerke bauen – die Schweizer Unternehmen sind also sogar noch rückständiger als die grossen deutschen Stromversorger. Es ist völlig klar: es braucht in der Schweiz NULL neue Atomkraftwerke, die bestehenden Atomkraftwerke können stillgelegt werden. Auch in der Schweiz sind die Städte auf dem Weg in eine Energieversorgung mit erneuerbaren Energien. Und auch in der Schweiz sind es die bürgerlichen Parteien, die ohne Energie-Sachverstand operieren, insbesondere SVP und FDP. Dass die auch nicht gerade für Energie-Knowhow bekannte economiesuisse fordert, dass Bundesrätin Doris Leuthard ins UVEK wechseln soll, um die neuen Atomkraftwerke zu fördern, lässt befürchten, dass auch Bürgerliche und (Teile der) Wirtschaft davon ausgehen, dass Energiepolitik auch in der Schweiz mit Schiebereien und Kungeleien funktionieren. Immerhin hat in der Schweiz die Bevölkerung das letzte Wort – und es ist nicht auszuschliessen, dass genau diese versuchte Einflussnahme der Stromwirtschaft erheblichen Einfluss auf den Entscheid der Stimmberechtigten hat!


Nach der Renaissance der Anti-AKW-Bewegung durch den gekauften Entscheid der CDU/CSU/FDP-Bundesregierung zu einer AKW-Laufzeitverlängerung – mindestens 100’000 Demonstrierende am 18.3. in Berlin gehen die Machtgames weiter. Die schon lange energiepolitisch sinnentleerten Koalitionspartner bleiben sprachlos und versuchen sich in Geschichtsklitterung. Wenn etwa der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Hans-Peter Friedrich, sagt, „die Demonstranten repräsentierten nicht die Mehrheit der Bevölkerung„, so ist dazu zu bemerken, dass weder die CDU/CSU/FDP-Koalition und erst recht nicht die CSU die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert. Bei den Bundestagswahlen erhielt die CDU/CSU/DFP-Koalition 48.4 Prozent der Stimmen – das ist zwar die Gruppe mit dem grössten Anteil Wählenden. Aber nur ein nicht wirklich demokratisches Wahlsystem hat dazu geführt, dass diese Gruppe auf 53.4 % der Parlamentssitze kommt. Die aktuelle Regierungskoalition hat zwar einen parlamentarische, nicht aber eine Mehrheit der Stimmberechtigten hinter sich!

Erste Fassung 6.9.2010