Eines Morgens…

wurden die Zürcherinnen und Zürcher vom Tuten eines gewaltigen Schiffhorns geweckt. Das weltgrösste Kreuzfahrtschiff legte gerade am Limmatquai an.

Bevor Sie sich jetzt verwundert die Augen reiben: das ist eine Geschichte! Inspiriert durch einen Kommentar von Jürg Rohrer im Auto-Anzeiger, früher Tages-Anzeiger von Zürich (leider nicht in elektronischer Form verfügbar) vom 7. Februar 2009. Er weist darauf hin, dass das Meer zweimal bis in die Gegend von Zürich reichte, nämlich vor etwa 30 und dann vor 16 Millionen Jahren. Also allerhöchste Zeit, das dies wieder einmal so kommt.

Das Kreuzfahrtschiff legte also in Zürich an. 3000 Passagiere bereiteten sich auf den Landgang vor, und 4000 Angestellte auf dem Schiff freuten sich auf einen ruhigen Tag.

Zürich am Meer? Da war einiges passiert. Wegen des Mensch gemachten Klimawandels waren die Alpen in Bewegung gekommen. Das schmelzende Gletschereis entlastete die Alpen von sehr viel Gewicht; auch die ausbleibenden Niederschläge führten dazu, dass die vielen feuchten Regionen in den Alpen austrockneten. Die leichteren Alpen vermochten dem „anstürmenden“ Kontinent Afrika nicht mehr so viel Widerstand entgegensetzen – und tauchten ab, nahmen all die Schollen Mittelland und weiter rheinabwärts mit. So kam es denn, dass die Strecke vom Zürichsee zum Meer immer kürzer wurde, nicht zuletzt, weil auch der Meeresspiegel laufend anstieg. Allerdings wurde auch das Leben immer schwieriger unter diesen Verhältnissen. Die grossen Bewegungen in den Alpen führten zu häufigen kleineren und grösseren Beben, und der Lebensraum für die hundert Millionen Menschen entlang des Rheins wurde immer knapper. Die Erinnerung an frühere Wohlhabenheit verblasste nicht nur in der Schweiz immer mehr – Armut und Not war immer häufiger das Los der Menschen, die es noch in Zürich und Umgebung aushielten. Die frühere Grösse Zürichs zeigte sich noch in den Ruinen der Kirchen, für viele Menschen, obdachlos geworden, ein willkommener Unterschlupf. Wenigstens schützten die dicken Mauern etwas vor den sandigen Winden und Stürmen, die regelmässig durch die Gegend peitschten.

Der wieder mäandernde Rhein bot, wie auch das Umfeld, ganz neuer Flora und Fauna Platz. Allerdings waren der Rhein, die Aare, auch die Limmat, nur noch schmale Gewässer, schliesslich fehlten ja die Niederschläge zum Füllen der Seen und Flüsse. Mit einem grossen Aufwand hatte die Weltbank ein Projekt realisieren lassen, um einen Kanal für Hochseeschiffe zwischen der Küste und Zürich zu erstellen. Auf diese Weise hoffte man, dass wenigstens einige Touristen den Weg in diese Entwicklungsregion fanden – allerdings war Not und Elend in immer weiteren Bereichen der Erde verbreitet, viele wohlhabende Menschen gab es nicht mehr auf der Erde. Und jetzt also legte dieses Kreuzfahrtschiff als erstes Schiff, welche den Rhein-Limmat-Kanal benutzte, in Zürich an. Nicht nur die Menschen auf dem Schiff waren gespannt auf dieses neue Zürich, auch die Menschen in Zürich und Umgebung warteten gespannt auf die BesucherInnen – darunter vor allem jene, die in jungen Jahren noch die Möglichkeiten der reichen, blühenden kleinsten Weltstadt erleben konnten.

Hier blenden wir uns aus der Geschichte aus.

Anlass für den Kommentar von Jürg Rohrer unter dem Titel „Wie schnell man doch empört ist“, ist die öffentliche Reaktion auf die Kunstaktion am Limmatquai mit dem Hafenkran – zürich – transit – maritim. Mit diesem Hafendrehkran respektive dem Kunstwerk möchte die Stadt eine Diskussion über die Gestaltung des Limmatraums starten. Es ist ja bekannt, dass „öffentliche“ Zürcherinnen und Zürcher erhebliche Schwierigkeiten mit Freiräumen haben, Beispiel ist etwa die grosse, weiträumige Halle des Zürcher Hauptbahnhofs, aus Gründen des Kommerzes allerdings mehrheitlich zugepflastert mit irgendwelchen Events.


Meine erste Reaktion auf diese Kunstidee war nicht etwa „Weltoffenheit“, was offenbar für viele der Hafenbegriff suggeriert, sondern die in der obigen Geschichte zum Ausdruck kommenden möglichen Folgen des Mensch gemachten Klimawandels. Zwar waren die historischen Häfen – Stichworte Venedig, Florenz, Huelva – tatsächlich weltoffen, weil hier europäische Menschen Türen in andere Gegenden entdeckten. Moderne Häfen sind demgegenüber Ausdruck der immensen für den Verkehr erforderlichen Infrastukturen. Bei oder entlang von Verkehrsanlagen ist die Lebensqualität schon lange vorbei.

Ja, lasst uns – für ein Jahr – einen Meer-Hafen in Zürich simulieren. Als Zeichen dafür, wie übergross der ökologische Fussabdruck der Zürcherinnen und Zürcher ist. Als Zeichen dafür, dass sich auch Zürcherinnen und Zürcher verantwortlich fühlen für den Zustand der Meere, zum Beispiel durch bewussten Konsum von Fischen aus dem Meer, zum Beispiel durch einen verminderten Verbrauch fossiler Brenn- und Treibstoffe – kommt doch ein erheblicher Teil dieser Energieträger mit Tankern über das Meer, immer auch mit dem Risiko von Meeresverschmutzungen verbunden. Als Zeichen dafür, dass auch die Zürcherinnen und Zürcher anerkennen, dass die aktuellen Verkehrsansprüche insbesondere der reichen Menschen (jene mit dem zu grossen ökologischen Fussabdruck) zu übermässigen Infrastruktureinrichtungen führen und dadurch Menschen übermässig belastet werden mit Lärm, Gestank, Staub, …

Ist es realistisch, dass Zürich irgendwann Meeranstoss erhält? Und wie realistisch ist das „schwarze“ Szenario, welches in der oben stehenden Geschichte ausgebreitet wird? Was in Millionen von Jahren sein wird, ist nicht unbedingt von Interesse, wohl aber die Frage, ob dies in Zeiträumen von wenigen Menschenleben möglich sein könnte. Diese Spekulation ist unappetitlich, weil derartig schnelle Veränderungsprozesse auf jeden Fall zu erheblichem Leid führen werden. Es gibt nur eines: die übermässigen Belastungen des Planenten Erde schnell und dauerhaft vermindern – Stichworte zum Beispiel „2000-Watt-Gesellschaft„, Suffizienz oder LOVOS, Livestyle Of VOluntary Simplicity.


Nachtrag 2.1.2010:

Der Gemeinderat hat an der Budgetsitzung im Dezember 2009 eine Voranschlagsposition gestrichen, die den temporären Zürcher Hafenkran verhindern soll. Kunst ist vor populistischen Scheinargumenten nicht schützbar – denn Kunst ist nicht zwingend mehrheitsfähig, gerade wenn sie provokativ ist. Und da Kunst kostet – weil ja auch KünstlerInnen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten haben – ist das Streichen von Kunstkrediten beliebtes Tummelfeld rappenspalterischer PolitikerInnen, selbst dann, wenn zur Durchsetzung eines Gemeinderatsbeschlusses rechtsgültig abgeschlossene Verträge gebrochen werden müssen. Nun, dieses Geld ist einfach von der Ausgabenliste gestrichen – und kann nicht wie in elektronischen Stammtischen vorgeschlagen, zur Armutsbekämpfung verwendet werden. Selbst wenn dies mögliche wäre, gäbe dies ja – bei den von der Caritas genannten Zahl von 400’000 Armen in der Schweiz – nicht einmal einen Stutz pro Person! Und weil dieses Geld nicht ausgegeben wird, erhalten die KünstlerInnen keinen Beitrag an ihre Lebenshaltungskosten – eine armselige Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, einen sehr sehr kleinen Bruchteil des verfügbaren Geldes für Kunst auszugeben. Oder geht es wohl doch darum, die mit Kunst immer verbundene Provokation nicht verarbeiten zu wollen?

P.S. Eben, auch wenn der Hafenkran nicht kommt – das Armutsthema ist keinen Schritt näher zur Lösung herangebracht worden – wie wäre es mit der Konkretisierung des bedingungslosen Grundeinkommens für alle?


Nachtrag 3.1.2010

Peider Filli weist mich darauf hin, dass er am 4.2.2009 im Gemeinderat eine schriftliche Anfrage eingereicht hat mit dem Vorschlag, einen Flugzeugträger als weiteren Teil dieser Kunstaktion zu verankern. Schon fast als Kunstwerk ist die stadträtliche Antwort vom 29.4.2009 zu betrachten, darum hier der vollständige Wortlaut: Ein Flugzeugträger am Limmatquai wäre mit Sicherheit ein spektakulärer Fund für die Archäologie der Zukunft. Diese fördert Zeugnisse der Vergangenheit zutage, welche bei aufmerksamer Betrachtung als Vorboten der Zukunft zu erkennen sind. So werden der Hafenkran, die Poller und das Schiffshorn entdeckt werden. Ein Flugzeugträger gehört nun aber nicht zu einem friedlichen Handelshafen, sondern zu einem Marinestützpunkt. Zürich hat noch nie einen Kriegshafen benötigt, und das wird hoffentlich auch in Zukunft so bleiben. Auf die weitere Suche nach einem Flugzeugträger wird darum verzichtet. Ob mir die Anfrage von Peider zum Zeitpunkt der Niederschrift meiner Geschichte bekannt war, kann ich im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit feststellen – da ich nicht gerade wöchentlich, aber doch regelmässig die Gemeinderatspost durchsehe, kann ich somit nicht ausschliessen, dass Peider mit zu den Ideengebern für diesen Text gehört!

Erste Fassung: 8.2. 2009