Die Gewissensprüfung ist demokratie-unwürdig

Seit dem 1. April 2009 verzichtet der Staat klugerweise auf eine Gewissensprüfung, wenn junge Menschen Zivildienst anstelle des Militärdienstes leisten wollen. Der Tatbeweis – die anderthalbfache Zivildienstdauer im Vergleich zum Militärdienst – ist sinnvollerweise ausreichend als Beweis für die Gewissensnot, die beim Leisten des Militärdienstes entstehen würde. Der Chef Armee stört sich daran, dass sich deutlich mehr junge Menschen für zivilen Dienst an der Gesellschaft entscheiden. Dessen Argumente erfordern einen deutlichen Protest.

Als Vorbemerkung: ich habe während einigen Jahren als Mitglied der sogenannten Zulassungskommission Anhörungen durchgeführt, die als eigentliche Gewissenprüfung Teil des Verfahrens für die Zulassung zum Zivildienst waren. Das Gewissen, ein hochgradig abstrakter Begriff, ist etwas vom innersten und damit persönlichsten, individuellsten eines Menschen. Gerade Demokratien, die vorgeben, die Rechte und Freiheiten des Individuums zu schützen, dürfen nicht verlangen, dass Menschen sich derart offenlegen müssen, wenn sie es nicht mit ihrem Gewissen verantworten können, Teil des staatlichen Gewaltapparates werden zu müssen. Auch wenn diverse demokratische Grossstaaten den militärischen Kampf für Demokratie als legitim halten: mit Gewalteinsatz lassen sich keine Probleme lösen. Krieg ist und bleibt schmutzig, bringt unermessliches Leid – Krieg gehört geächtet!

Nach einer grossen Zahl dieser demokratie-unwürdigen Gewissensprüfung hat sich endlich das Schweizerische Parlament dazu durchringen können, die Gewissensprüfung abzuschaffen. Wenn der Armeechef André Blattmann nun von einem „Betriebsunfall beim Gesetzgeber“ spricht, missachtet er in doppelter Hinsicht die Demokratie: die Abschaffung der Gewissensprüfung ist ein bewusster Prozess des Gesetzgebers, während langen Jahren vorbereitet, gerade mit der Absicht, den individuellen Gewissensentscheid nicht mit einer letztlich unnötigen öffentlichen „Gewissensprüfung“ – das Gewissen hat mit Sicherheit keinen kognitiven Zugang und ist deshalb prinzipiell gar nicht prüfbar – zu erschweren, sondern zu respektieren, dass Menschen, die wegen der für sie unzumutbaren Verpflichtung der Gewaltausübung im Auftrag des Staates leiden, einen für sie stimmigen Ausweg aus der Gewissensnot ermöglicht, ohne mit übermässigen Folgen konfrontiert zu werden. Andererseits negiert der Armeechef, dass die Bürger dieses Staates eigenverantwortlich mit ihren Rechten und Pflichten umgehen können. Allein diese Unterstellung ist für sich allein betrachtet unerträglich.

Im übrigen: dass Menschen, die bis anhin gezögert haben, ihre Gewissensnot öffentlich zu machen, nach Wegfall des demokratie-unwürdigen Hindernisses „Gewissensprüfung“ ein Zivildienstgesuch stellen, ist nachvollziehbar – und möglicherweise bloss eine Welle nach der Einführung der vereinfachten Zulassung zum Zivildienst.

Der Gesetzgeber hat den Zivildienst gesetzlich geregelt, dazu gehören auch die Bedingungen für Einsatzorte für Zivildienstpflichtige. Es gehört zum Ermessensspielraum – auch dies wieder im Rahmen der staatspolitischen Verantwortung der Individuen – sowohl der EntscheiderInnen über Zivildiensteinsatzorte als auch der Verantwortlichen an den Einsatzorten, über die Aufgaben, die von den Zivildienstleistenden zu erbringen sind, zu entscheiden. Gerade die Armee, die diverse Einsätze leistet, die mit dem eigentlichen Armeeauftrag wenig bis gar nichts zu tun hat, beispielsweise Infrastruktureinsätze zugunsten von Schwingfesten oder Skirennen, sollte sehr zurückhaltend sein, wenn die Einsatzorte des Zivildienstes kritisiert werden.

Wenn junge Menschen den Zivildienst dem Militärdienst vorziehen, ist es eine zwingende Aufgabe der Demokratie, hier insbesondere des Bundesrates und des Parlamentes, die Zweckmässigkeit und Notwendigkeit der Armee zu überprüfen – die Armee ist es, die nicht wirklich demokratieverträglich ist. Nur als Gedankenmodell: warum mussten eigentlich früher nur potentielle Zivildienstler eine Gewissensprüfung ablegen, nicht aber Militärdienstleistende? Das reale Politikproblem sind die zahllosen negativen Vorfälle im Rahmen des Militärdienstes, sind die gesellschaftspolitischen Fragestellungen, die sich aus der Bereitschaft des Staates, Gewalt als Teil einer Konfliktbehandlungsstrategie zu akzeptieren, ergeben. Es ist sicher nicht vordringlich, im Bereich Zivildienst Änderungen vorzunehmen!