WeghörerInnen

Darf man das Verhalten des libyschen Staates kritisieren – müssen sich Kritisierende entweder mit absurden Staatenabschaffungsvorstössen eines schnell alternden Diktators beschäftigen oder sich vorwerfen lassen, die Rückkehr von „Geiseln“ zu verzögern?

Darf die nachgeborene Generation den Jubelpatriotismus des nicht wirklichen Bundesrates Ueli Maurer und einer starren Weltkriegsgeneration nicht einmal in Frage stellen – obwohl längst bekannt ist, dass die Regierenden eine fiktive Geschichte erzählen über die Schweiz im 2. Weltkrieg, die nichts mit der Realität zu tun haben?

Dürfen sich AussenministerInnen z.B. der EU empören, wenn Krieg nicht sauber ist, wie sie dies gerne hätten? Dürfen sie sich weiterhin der Fiktion hingeben, Probleme liessen sich mit militärischer Gewalt lösen?

War es die militärische Stärke und die Strategie der Schweizer Armee, die die Schweiz im 2. Weltkrieg vor den Kriegszerstörungen verschont hat? Oder war es die willfährige Politik der Schweiz? Die HistorikerInnen neigen aufgrund ihrer Analyse eher zur Politik-These. Eigentlich müsste es der offiziellen Schweiz möglich sein, dazu zu stehen, dass es nicht die behauptete Wehrhaftigkeit der Schweiz, sondern die opportunistische Politik des Bundes war, welches das Land vor den direkten Folgen der Kriegswirren bewahrt hat – und gleichzeitig jenen Frauen und Männern, die unter Entbehrungen und mit viel persönlichem Einsatz (die Erwerbsersatzordnung wurde erst im Verlaufe des Krieges eingeführt) an die Fiktion der wehrhaften Schweiz geglaubt haben, für ihr Engagement, ihr Herzblut zu danken. Leider ist dem nicht so: Ueli Maurer, Chef VBS, spricht die damalige öffentlich geäusserte Doktrin der wehrhaften Schweiz heilig, ignoriert die Erkenntnisse der neueren Forschung. Die Weltkriegsgeneration hat ohne Wenn und Aber Dank und Respekt verdient – und genau darum braucht es den unbedingten Einsatz der Schweiz für eine gewaltfreie Problemlösungsstrategie, für eine Entmilitarisierung der Gesellschaft, für eine Ächtung von Krieg und Gewalt. Der verklärte Blick nicht nur von Ueli Maurer auf die Schweiz im 2. Weltkrieg steht einer Welt ohne Gewalt und dem damit verbundenen unermesslichen Leid im Weg. Krieg ist nie gerecht, Krieg ist nie sauber – und ist damit als Zukunftsstrategie untauglich.

Wenn der libysche Diktator Qadhafi wie gerüchteweise vermutet wird die Abschaffung respektive Aufteilung der Schweiz verlangt, so ist dies aufgrund der völkerrechtlichen Souveränitätsgarantie – dem Existenzrecht von Staaten – absurd. Darüber hinaus, und als Anknüpfung an die unkritische Haltung des VBS-Chefs: Als Puffergebiet zwischen den vier grossen Staaten von Mitteleuropa und Verwalterin wichtiger Alpenübergänge dürfte die Schweiz eine allerdings nicht zu überschätzende Rolle zur Konfliktentschärfung und damit einer relativen Stabilität in Europa spielen, und dies seit dem Wiener Kongress, und eben gerade nicht wegen der militärischen Stärke, sondern wegen der Funktion als Abstandshalter und „Dienstleister“. Auch wenn die Forderungen von Qadhafi absurd sind, sie zeigen eine der Schwächen des Völkerrechts: die gleiche Souveränitätsgarantie, welche das Ansinnen von Qadhafi zur Groteske macht, dient letztlich eben auch der Machterhaltung von Diktator Qadhafi! Das Völkerrecht erlaubt dem libyschen Tyrannen als offenbar legitime Autorität in Libyen ein Willkürregime, auch wenn Menschenrechtsverletzungen begangen werden – sogar der Vorsitz in der UNO-Generalversammlung ist für Diktatoren möglich. Demokratische und diktatorische Systeme sind also auf Völkerrechtsebene gleichgestellt! Das Völkerrecht muss weiterentwickelt werden, muss auch dazu dienen, die umfassende Umsetzung der universellen Menschenrechte auf Staatenebene zu verankern.

Einen zentralen Orientierungspunkt bieten die Leitsätze des Weltethos:

  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau

Eine zukunftsfähige Welt braucht Staaten mit ihren Einwohnenden, die sich auf diese Leitsätze des Weltethos verpflichten. Es braucht Menschen und Organisationen, die – analog der Beurteilung von Unternehmen oder von Wahlen – die konkrete Alltagssituation in den einzelnen Staaten analysieren und Empfehlungen abgeben, welche Schritte zu unternehmen sind, um diesen Leitsätzen, den Menschenrechten näher zu kommen. Und objektiverweise: hier haben selbst Demokratien Handlungsbedarf!