Denken in Varianten: Und wenn es ganz anders wäre?

Die Beschaffung von Transportgefässen für den öffentlichen Verkehr führt erfahrungsgemäss zur sehr emotionalen Debatten. Ein SVP-Regierungsrat im Wahlkampf, geheime, nicht wirklich beurteilbare Unterlagen, die via Medien an die Öffentlichkeit gelangen, ein städtischer Verkehrsbetrieb, der dringend auf neue Trams angewiesen ist: einige der Zutaten in einer Geschichte, in der es kaum Fakten gibt. In den Sonntagsmedien vom 1. März 2015 fordert Ex-SVP-Nationalrat auf dieser spekulativen Basis Strafen im IS/ISIS-Style: «Köpferollen bei den VBZ». Da lohnt es sich, diese Geschichte in Varianten zu denken.

Nachtrag 17. Mai 2016: Vierzehneinhalb Monate später ist klar, dass das Denken in Varianten in die richtige Richtung geführt hat! Titel in der NZZ vom 17. Mai 2016: Zürcher Trambeschaffung: Der Spuk ist vorbei. Das damalige Fehlverhalten von SVP-Regierungsrat Ernst Stocker und Peter Spuhler ist unakzeptabel und muss Konsequenzen haben für diese Herren.

Das öffentliche Beschaffungswesen ist hoch komplex. Es geht davon aus, dass selbst AnbieterInnen, die keinerlei Know-how im Bereich der ausgeschriebenen Güter und Dienstleistungen haben, sich für die Ausführung des Auftrags bewerben können, und dann aufgrund einer umfangreichen Kriterienliste in einem gemischt qualitativ/quantitativen Verfahren beurteilt werden. Auch wenn der Zuschlag erfolgt ist, besteht eine Vielzahl von Rechtsmitteln. Wenn eine öffentliche Institution tatsächlich darauf angewiesen ist, wie hier im Fall der Trambeschaffung für die VBZ, wird diese Institution alles daran setzen, das Verfahren korrekt anzusetzen. Im Sinne des Variantendenkens ist dies somit die erste Vorgabe: Das Verfahren ist von Seiten der VBZ bis anhin korrekt abgelaufen. Oder, was wie immer vergessen wird bei dieser Geschichte: Es gilt die Unschuldsvermutung!

In diesem Beschaffungsverfahren ist nicht vorgesehen, was der Verkehrsrat beschlossen hat: Die Einholung eines Gutachtens zur Beurteilung der Offerten. Ein solcher Verfahrensschritt ist mit guten Gründen nicht vorgesehen. Gerade bei nicht alltäglichen Beschaffungen, und dazu gehören Trambeschaffungen, gibt es keine unabhängigen ExpertInnen, die ein solches Gutachten erstellen können. Auch das vom Verkehrsrat beauftragte Unternehmen kann nicht als unabhängig gelten, sondern steht im Konkurrenzverhältnis mit Teilnehmenden an diesem Aussschreibungsverfahren. Die VBZ hat deshalb rechtliche Schritte eingeleitet, um den ordnungsgemässen Ablauf des Ausschreibungsverfahren wieder in Gang zu bringen, was bedeuten würde, dass der Verkehrsrat endlich über den Beschaffungs-Antrag der VBZ entscheiden müsste.

Damit entsteht ein ziemlich unangenehmer Verdacht: SVP-Wahlkämpfer Ernst Stocker, deklarierter Anti-Städter, deklarierter Anti-ÖV-Verkehrsteilnehmer, deklarierter «Schweizer Unternehmen zuerst»-Botschafter, will weder über die Trambeschaffung noch über die allfällige Vorgabe an ein Unternehmen entscheiden, welches im ordentlichen Verfahren die Ausschreibungskriterien am besten erfüllt, solange es sich nicht um ein Unternehmen handelt, welches als schweizerisch gilt. Um diesen Nichtentscheid zu verstecken, wird der Verdacht genährt, das Verfahren sei nicht korrekt abgelaufen – im Übrigen eine Beurteilung, die durch Gerichte und nicht durch politische Gremien wie den Verkehrsrat vorzunehmen ist. Da diese Vorgehensweise sowohl für die Trambeschaffung als auch die VBZ nachteilig ist, dient dies ausschliesslich Wahlkämpfer Stocker, und den vorgeblich im Antrag der VBZ (welcher geheim ist) nicht an erster Stelle genannten Unternehmen. Dabei handelt es sich um eine objektive Einschätzung, die nicht durch die Unschuldsvermutung eingeschränkt wird.

Dass Medien geheime Berichte an die Öffentlichkeit bringen, ist nicht durch die Meinungsäusserungsfreiheit abgedeckt, sondern ganz einfach kriminell – die Vorgehensweise von SRF stellt eine massive Konzessionsverletzung dar. Nutzen davon hat einmal mehr Wahlkämpfer Ernst Stocker. Im Sinne des Variantendenkens: Ein vorgeblich linkes Medium als Teil der SVP-Propaganda? Da das rechtliche Verfahren zur Wiederherstellung der rechtsstaatlich korrekten Vergabe noch läuft, dürfen die Beteiligten sich nicht zum Status dieses geheimen Berichts äussern. Die Öffentlichkeit weiss also nicht, ob es sich tatsächlich um einen Schlussbericht handelt, ob dieser vom Verkehrsrat bereits behandelt wurde und so weiter und so fort. Im Sinne des Variantendenkens: bei diesem geheimen Dokument könnte es sich sogar um einen Fake-Bericht handeln, von wem auch immer hergestellt!

Wenn sich nun der Ex-SVP-Nationalrat und «Mister Stadler Rail» Peter Spuhler auf der Basis dieses geheimen Berichts mit unklarem Status äussert, ist dies schlicht nicht akzeptabel. Sein Unternehmen ist, da eine Offerte eingereicht wurde, am Verfahren beteiligt. Somit hat Herrn Spuhler ganz einfach zu schweigen, solange dieses Verfahren nicht rechtsstaatlich abgeschlossen ist! Auch wenn es bei den Ausführungen von Herrn Spuhler einige «Wenn» enthalten sind: für ihn ist klar, dass das Verfahren nicht korrekt gelaufen ist, unter Missachtung der Unschuldsvermutung. Wer aktuell von «Köpfe rollen» spricht, ist von allen guten Geistern verlassen. Sorry, Herr Spuhler, so nicht! Diese Verhaltensweise lässt nur einen Schluss zu: Herr Spuhler ist nur zufriedenzustellen, wenn «Stadler Rail», allenfalls ein anderes als das von der VBZ bevorzugte Unternehmen den Auftrag für diese Trams erhält. Und Wahlkämpfer Stocker ist erst zufrieden, wenn er auch dank dieser Propaganda-Aktion wieder gewählt ist und wenn auch Herrn Spuhler zufrieden ist. Auch hier wird die Unschuldsvermutung nicht verletzt, weil dies eindeutig durch öffentlich bekannte Äusserungen der genannten Personen belegt ist.

Die mindestens so wahrscheinliche Variante der Geschichte: weil objektive Ausschreibungsverfahren nicht zwingend zur Auftragsvergabe an «Stadler Rail» führen, wollen SVP-VertreterInnen das Verfahren solange verbiegen, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt, unabhängig von den Vorgaben des demokratischen Rechtsstaates! Neben der Beschädigung von Demokratie, Rechtsstaat, VBZ und Stadt Zürich hat dies sehr bald direkt Auswirkungen auf das ÖV-Angebot in der Stadt Zürich. Typisch SVP halt.


Nachtrag: Interview mit Stadtrat Andres Türler, NZZ, 1.3.2015, 18:30 Uhr. Auch er lädt zum Denken in Varianten ein.


Erste Version dieses Textes: So, 1.3.2015, 12:19