Tuvalu an der Langstrasse

„Reclaim the streets“ und „Critical Mass“ sind hochpolitische Aktivitäten, seit jeher von der klassischen Partei- und Mandate-Politik nicht gern gesehen. Es handelt sich um individualpolitische Handlungen, Rückeroberung des Strassenraums, Selbstbestimmung des Unterwegs-Tempos mit dem Velo im öffentlichen Raum, letztlich aufbauend auf „Global denken, lokal handeln“. Konsum- und Globalisierungskritik, durchaus mit Bezug zum Lebensstil LOVOS, verbinden sich mit dem Spass, die Flächen, die sonst von den Autofahrenden okkupiert werden, nach Lust und Laune zu nutzen. In Zürich, ist zu vermuten, hat in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 2010 der Genuss des „Reclaim the streets“ auch After Midnight-PartygängerInnen angelockt; die politisch gedachten Freiräume verbunden mit den hedonistischen Bedürfnissen einer mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl bezüglich Konsumansprüchen als auch im Umgang mit individuellen Freiheiten anderes interessierten gesellschaftlichen Gruppe haben – aus für mich nicht schlüssig nachvollziehbaren Gründen – zu einer von den Medien als Saubannerzug bezeichneten Eskalation geführt. Und dies wiederum zum Ruf nach viel mehr Polizeipräsenz.

Mit sehr theatralischem Erschrecken reagieren PolitikerInnen von rinks bis lechts auf Sachbeschädigungen bei solchen Anlässen und den damit zusammenhängenden nicht planbaren Ausweitungen.

Spätestens seit der Klimakonferenz von Kopenhagen ist beispielsweise mit den Voten aus Tuvalu klar: das ganz alltägliche Verhalten insbesondere der Übermass-Konsum-Gesellschaft hat ein erhebliches Zerstörungspotential! Tuvalu, eine Insel im Meer, kleiner als die Stadt Zürich, wird verschwinden, zwar wegen des steigenden Meeresspiegels, ausgelöst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch den Mensch gemachten Klimawandel! Mensch gemachte Zerstörung, gesellschaftspolitisch gewollt, wie die mageren Ergebnisse von Kopenhagen zeigen. Das Akzeptieren von Zerstörungen, beispielsweise gerade auch im Strassenverkehr, wo selbst Tote mit in das Akzeptanz-Kalkül einfliessen, gehört zu Widerwärtigkeiten der Lebenserfahrung, und auch bei Naturkatastrophen bleiben als oberste Erinnerung die erschreckenden Zerstörungsbilder. Und auch beim „Krieg für Öl“ wird auch in unserem Namen Zerstörung in die Welt getragen – auch dorthin, wo es die Betroffenen nicht verstehen!

Die Zerstörung von Werten ist nun mal eines der Merkmale der gegenwärtigen Gesellschaft – wer sich, wie oben gesagt, nur wegen der mehr als ärgerlichen Zerstörung nach mehr Polizei ruft, zeigt zuerst, dass er/sie sich nicht wirklich mit Vorgängen ausserhalb eigener Denkmodelle beschäftigen mag! Dazu gehört etwa auch, dass PolitikerInnen von rinks bis lechts bei solchen Ereignissen prinzipiell einen möglichen politischen Hintergrund ausschliessen. Nur: Politik ist mehr, als bei Wahlen einige Mandate zu verteilen – die klassische Politik ist bestens dazu geeignet, das, was mehrheitsfähig ist, in ein Gesetz zu giessen und dafür Steuergelder einzusetzen. Im übrigen durchaus eine beachtliche Leistung angesichts der vielen letztlich randständigen Gruppenegoismen einer pluralistischen Gesellschaft, mehr aber auch nicht. Die Nase in den Wind zu halten, gesellschaftspolitische Veränderungen zu spüren und in Handlung umzusetzen, muss nicht zwingend Aufgabe der „klassischen“ Politik sein, denn genau dazu gibt es „Reclaim the streets“ und „Critical mass“ (ob wohl die Politik genau deshalb Mühe mit solchen Anlässen hat?).

Nochmals: Zerstörungen wie in der Nacht von 6. auf den 7. Februar 2010 in Zürich sind nicht nötig (und können durch noch so grosse Polizeiaufgebote nicht verhindert werden). Gerade die PolitikerInnen müssen sich aber die Frage stellen, was denn in der Gesellschaft, allenfalls auch in Teilen der Gesellschaft passiert. Warum ist bei der Zerstörung von materiellen Werten die Hemmschwelle sowohl lokal, national wie international derart tief? Hat dies möglicherweise den gleichen Hintergrund wie das absurde Abstimmung-Ergebnis zur Anti-Minarett-Initiative?