An der Kantonsratsitzung vom 22. Juni 2015 hat der Zürcher EDU-Kantonsrat Michael Welz behauptet, «Velofahrer nehmen sich ja bekanntlich viel mehr heraus, als erlaubt ist.» Wie viele PolitikerInnen-Floskeln ist dies völliger Unsinn, aber zumindest Herrn Welz und viele KantonsrätInnen von SVP, FDP und CVP glauben solchen Unsinn. Darum erlaube ich mir als legalistischer Alltagsvelofahrer, ein privates Mail an Herrn Welz öffentlich zu machen.
Sehr geehrter Herr Welz
Ihre pauschale Aussage an der Kantonsratssitzung vom 22. Juni 2015, «Velofahrer nehmen sich ja bekanntlich viel mehr heraus, als erlaubt ist.», ist grober Unfug und kann so nicht stehen bleiben. P.S. Ich beziehe mich nicht darauf, dass in der vom Tages-Anzeiger gewählten Form zum Ausdruck kommen könnte, dass Velofahrende häufiger als der Durchschnitt der Bevölkerung in allen Lebenslagen sich mehr herausnehmen, als erlaubt ist. Ich reduziere dies auf das Verkehrsverhalten der Velofahrenden.
Ich halte vorerst fest, dass ich mich als legalistischen Alltags-Velofahrer bezeichne. Ich bin seit mehr als 30 Jahren fast Tag für Tag mit dem Velo unterwegs, auf dem Arbeitsweg, beim Einkaufen, unterwegs zu Freizeitaktivitäten, manchmal auch in den Ferien. Ich bin auch ein politischer Velofahrer, weil das Velo das mit Abstand intelligenteste Verkehrsmittel ist, unter anderem deshalb, weil Velofahren durch die körperliche Aktivität beim Unterwegssein zur Gesundheit der Velofahrenden beiträgt, und weil dieses Unterwegssein mit sehr geringer Umweltbelastung möglich ist.
Vorerst ist festzuhalten, dass die Mehrzahl der Velofahrenden legalistisch unterwegs sind – ganz einfach darum, weil Velofahrende auf ihre eigene Sicherheit achten. Velofahrende sind die exponiertesten Verkehrsteilnehmenden.
Ebenso ist anzumerken, dass die Strassenverkehrsregeln nicht für Velofahrende gemacht wurden. Gesetzgebung und Bussenrahmen orientieren sich an Motorfahrzeugen, um ein mehrfaches schwerer als Velofahrende inkl. Velo, um ein mehrfaches grösser als Velos, um ein mehrfaches lauter als Velofahrende, um ein mehrfaches umweltbelastender als Velofahrende. Viele dieser Regeln sind für Velofahrende aus physikalischen Gründen nicht zweckmässig.
Wenn ich mit dem Velo als Alltagsvelofahrer unterwegs bin, stelle ich regelmässig fest, dass ich im Siedlungsgebiet deutlich langsamer unterwegs bin als es etwa die üblichen Wegzeitenberechnungen ergeben. Da ich ein geübter und zügig fahrender Velofahrer bin, gibt es dafür nur eine Erklärung: ich bin sehr sehr häufig am Warten im Verkehrsgeschehen! Interessanterweise gibt es zwar für den Autoverkehr grüne Wellen, nicht aber für den Veloverkehr. Das wäre eine ganz einfache Verbesserungsmöglichkeit.
Zwei offensichtliche Ärgernisse – neben der schon längst fälligen und vielen Ländern erfolgreich praktizierten Abschaffung des Rechtsabbiegeverbots bei Rotlicht – gibt es für Alltagsvelofahrende:
- Gerade im Kreuzungsbereich von Strassen wird die «Gasse rechts» für Velofahrende meist nicht offen gehalten. Es ist nicht erstaunlich, dass dann Velofahrende auf ein in der Regel schwach benutztes Trottoir ausweichen. Ohne Zweifel ein Regelverstoss, aber offensichtlich als Folge eines vorangehenden Regelverstoss der Autofahrenden. Nun, im Rechtsstaat taugt eine solche Sichtweise nicht. Daher zwingend: Auch vor Kreuzungen insbesondere mit Lichtsignalanlagen haben Autofahrende die Gasse rechts, also zwischen ihrem Auto und dem Trottoir, für Velofahrende freizuhalten; dies gilt auch ohne signalisierte Velostreifen.
- Völlig untauglich sind Mischflächen für zu Fuss gehende und Velofahrende. Ich habe mehrfach festgestellt, dass selbst bei leicht höherer Geschwindigkeit als Schritttempo und trotz ausreichendem Abstand zu Fuss gehende von Velofahrenden erschreckt werden. Das Verkehrsverhalten von Velofahrenden und zu Fuss gehenden ist derart unterschiedlich, dass diese beiden Arten von Verkehrsteilnehmenden nicht zusammen passen. Aus Gesprächen mit zu Fuss gehenden Verkehrsteilnehmenden weiss ich, dass selbst bei signalisierten Radwegen im Trottoirbereich zu Fuss gehende eine solche Velofahrt als Regelverstoss betrachtet. Eine solche Gemeinsamführung ist möglichst zu vermeiden.
Ich habe in den letzten Jahren jeweils während mehreren Wochen Velowege in den Ländern Österreich, Slowakei, Ungarn, Deutschland, Tschechien, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Holland und Italien erkundet. Ich bin mir der Gefahr von Pauschalisierungen sehr wohl bewusst, aber ich halte trotzdem fest, dass in der Schweiz die aggressivsten und rücksichtslosesten Autofahrenden unterwegs sind, ohne Blick für einen ruhigen Verkehrsfluss, und dass gleichzeitig die Möglichkeiten für Velofahrende in keinem dieser Länder so schlecht sind wie in der Schweiz. Als ein kleines Beispiel: es wäre in den genannten Ländern undenkbar, dass die Sihltalstrasse zwischen Sihlbrugg Station und Sihlbrugg Dorf, trotz Autobahn im Knonaueramt nach wie vor intensiv und schnell von Autos befahren, als Teil einer Velolandroute (L’Areuse–Emme–Sihl) bezeichnet würde.
Unterwegssein mit dem Auto auch für völlig ungeeignete Zwecke wie Pendlerfahrten zwischen Wohnung und Büro ist zwar nach wie vor gesetzlich zulässig. Aber es besteht im Grundsatz Einigkeit darüber, dass eine solche Verhaltensweise nicht zukunftsfähig ist. Zu viele Belastungen für Menschen und Umwelt stammen aus dem übermässigen motorisierten Individualverkehr. Es ist alles daran zu setzen, das Velo als Alltagsverkehrsmittel für kurze und mittlere Strecken in erheblichem Umfang zu fördern. Wer wie Sie nach Kriminalisierung der Velofahrenden schreit, schadet dieser dringend notwendigen Veloförderung!
Ich ersuche Sie dringend, auf offensichtlich unsinnigen Aussagen zum vorgeblichen Verhalten von Velofahrenden zu verzichten. Ich erwarte von Ihnen baldmöglichst einen Vorstoss, damit der Kanton Zürich das Velofahren im Alltag tatsächlich fördert, zum Beispiel durch Verkehrsregeln, die den Eigenheiten des intelligenten Verkehrsmittels Velo gerecht werden, auch wenn dadurch der Autoverkehr eingeschränkt werden sollte.
Freundliche Grüsse
Toni W. Püntener
(Kantonsrat Grüne 1999 bis 2002)