Leichtsinnig und hysterisch?

CVP-Bundesrätin Doris Leuthard und $VP-Bundesrat Ueli Maurer kanzeln einen erheblichen Teil der SchweizerInnen als leichtsinnig und hysterisch ab. Hintergrund ist die mehr als berechtigte Forderung einer wachsenden Gruppe von PolitikerInnen und der Bevölkerung, endlich auf die Atomenergie zu verzichten und gleichzeitig ernsthaften Klimaschutz zu betreiben. Die Reaktionen der BundesrätInnen weisen eher darauf hin, dass der dringend notwendige Lernprozess noch nicht oder sehr verzögert eingesetzt hat.

Frau Leuthard reklamiert hoch virtuelle und noch nie wirklich bewiesene Vorteile der Atomenergie. Der NZZ-Artikel „Pandoras Atomkraftwerke“ ist eines jener Mosaik-Steinchen, die darlegt, dass Atomenergie ein gesellschaftspolitisches „No Go“ ist. Bei allem Respekt vor der Leistungsfähigkeit menschlicher Gehirne zeigen sämtliche bisherigen Atomunfälle der Geschichte, dass für derartig komplexe Technologien das Gesetz von Murphy uneingeschränkt und jenseits jeglicher Hysterie gilt: was schiefgehen kann, geht auch schief – dies gilt selbst für unwahrscheinliche Szenarien, die selbst kritische DenkerInnen im Wahrscheinlichkeitspfad eines Atomunfalls kaum beachten. Eine solche Technologie ist prinzipiell gesellschaftlich nicht verantwortbar – es gibt keine ethische Begründung zur Akzeptierung derartiger Risiken.

Gesellschaftspolitisch stellt sich nur noch die Frage, wie schnell auf die Atomenergie verzichtet wird. Auch wenn gerade die offizielle Schweiz respektive die politische Mehrheit die 25 Jahre nach Tschernobyl energiepolitisch verschlafen hat, ist klar: wie schnell auf die Atomenergie verzichtet werden kann, liegt ausschliesslich in der Entscheidhoheit der Politik!

Denn: es gibt eine derart grosse Zahl von Studien, die belegen, dass der Ausstieg aus der Atomenergie sowohl finanzierbar wie technisch machbar ist – es braucht dabei definitiv nicht den Nachweis, wie jede heute verbrauchte Atom-Kilowattstunde durch einen andern Energieträger ersetzt werden könnte, schliesslich sind auch die Stromeffizienz und die Suffizienz (freiwilliger Verzicht/Lebensstil LOVOS) einzubeziehen. Sowohl Bundesrätin Leuthard, Bundesrat Maurer, aber auch die Atomlobby sollten wahrnehmen, dass im Gegensatz zu ihnen weite Teile der interessierten Fachwelt eben nicht geschlafen haben, sondern intensiv gearbeitet haben – der Bremsklotz zur Umsetzung dieses immensen Knowhow-Potentials heisst nicht nur in der Schweiz POLITIK. Gerade die Politik des Bundesrates spielt dabei eine wichtige Rolle, es ist immer wieder festzustellen, dass der Bund offenbar in „Geiselhaft“ der Atomlobby ist.

Persönlich bin ich kein Verfechter einer ausschliesslich technologie-orientierten Energiepolitik – Effizienz und erneuerbare Energien sind zwar wichtige Elemente der Energie- und Klimaschutzpolitik, aber es braucht auch die Diskussion über den Lebensstil, unter Einbezug von LOVOS, der freiwilligen Einfachheit. Trotzdem lohnt sich auch ein Blick auf Technologieentwicklungen, als ein Aspekt seltene Erden respektive Ressourcen. Ich habe darauf hingewiesen, dass der Einsatz seltener Erden etwa bei Computern und Fotovoltaik nicht das Ziel der Technologie sein kann, dass Cradle to Cradle ein wichtiger Orientierungspunkt der technologischen Entwicklung darzustellen hat. Eine Medienmitteilung des Bundes vom 24.3.2011 mit dem Titel „Gewebenetz fängt Sonnenenergie ein: Neuartige Elektrode für flexible Dünnschicht-Solarzellen“ weist darauf hin, dass selbst bereits als nachhaltig eingestufte Technologien nach wie vor Verbesserungspotenzial haben.

Die Forderung des so rasch als möglichen erfolgenden Ausstiegs aus der Atomenergie ist alles andere als Leichtsinn oder Hysterie, sondern ein hoch rationaler und sehr gut begründeter Handlungsauftrag an die Politik.


Nachtrag 27.3.2011

Immer wieder gibt es in den Medien Interviews mit energiepolitisch inkompetenen Angstmachertypen. Beispielsweise kommt in der Zeitung „Der Sonntag“ (zitiert im Tages-Anzeiger, Titel „Alpiq-Chef warnt vor Stromrechnungen von 6000 Franken“) vom 27.3.2011 Giovanni Leonardi, CEO von Alpiq, zu Wort. Alpiq ist als Betreiberin des bestehenden Kernkraftwerks Gösgen und wegen der hohen Beteiligung am Kernkraftwerk Leibstadt Lobbyist für Kernenergie, also Teil der weltumspannenden PR-Maschinerie. Wenn Herr Leonardi nun behauptet, auf die Haushalte komme eine gewaltige Strompreiserhöhung zu, weil Windstrom und Solarstrom so teuer sei, ist er schlicht nicht auf der Höhe des aktuellen technischen und ökonomischen Fachwissens. „Windstrom billiger als Atomstrom“ und „Solarstrom erreicht bald Netzparität“ sind typische Titel in den Fachmedien der letzten Zeit – während gleichzeitig über die astronomische Kostensteigerung beim Neubau des finnischen Atomkraftwerkes Olkiluoto berichtet wird. Zu beachten ist zudem, dass die Atomenergie mit erheblichen Subventionen gefördert wird; ebenso werden die Risiken vergesellschaftet (Versicherungssumme für Grossschäden vernachlässigbar im Vergleich mit den voraussichtlichen Schadenkosten) – und mit sicherheitstechnisch hoch prekären Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke wird weiteres Geld in die Kassen der Elektrowirtschaft geschaufelt. Die Marktpreise für erneuerbaren Strom (beispielsweise bietet das ewz die Vollversorgung von Haushalten und Unternehmen mit ausschliesslich erneuerbarem Strom an) zeigen klar: mit solchen Fantasiezahlen will der Alpiq-CEO bloss PR für noch mehr unnötige AKW machen.

Ein Stirnrunzeln bleibt: wenn der Alpiq-CEO derart wissen-unbelastet bezüglich erneuerbare Energien argumentiert, ist er denn fachkompetent genug, um die Sicherheit des von seiner Firma betriebenen Atomkraftwerks beurteilen zu können?


Ein analoges Angstmacher-Thema: Gaskraftwerke, beispielsweise von Frau Bundesrätin Doris Leuthard vertreten – sie spricht von drei bis fünf Gaskraftwerken. Abgesehen von den Zahlen: haben Gaskraftwerke Angstmacher-Potential? Vorerst: Gaskraftwerke haben eine wesentlich kürzere Nutzungsdauer als Atomkraftwerke, die Energiepolitik wird somit nicht gleichermassen langfristig beeinflusst.

Darüber hinaus: es braucht eine Gesamtbetrachtung. Ich gehe davon aus, dass durch energetische Gebäudemassnahmen der Gasverbrauch vermindert wird. Es gibt grössere Gebäudebestände, bei denen der Verbrauch um 2/3 reduziert werden kann. Diese Häuser könnten weiterhin mit einer Gasheizung betrieben werden – oder aber dieses Gas wird in einem GUD-Kraftwerk mit 60% Wirkungsgrad zur Stromproduktion verwendet. Stattdessen werden die Gebäude mit guten Wärmepumpen ausgestattet, die aus einer Kilowattstunde Strom 3.8 kWh Wärme bereitstellen. Zahlenmässig:

  • Ausgangspunkt 100 Einheiten Erdgasverbrauch für die Beheizung von 100 Wohneinheiten
  • Effizienzmassnahmen am Gebäude: es verbleiben 33 1/3 Einheiten Erdgasverbrauch für die Beheizung der 100 Wohneinheiten
  • Dieses Gas wird mit einem Wirkungsgrad von 60 % zur Produktion von 20 Einheiten Strom verwendet.
  • Dezentral werden mittels Wärmepumpen aus diesen 20 Einheiten Strom 78 Einheiten Wärme bereitgestellt – damit lassen sich insgesamt 228 Wohneinheiten mit Wärme beliefern.
  • Für diese Wohneinheiten wurden ursprünglich 228 Einheiten Gas verwendet, neu nur noch 33 1/3 – der CO2-Ausstoss konnte auf 15 % des Ausgangswertes vermindert werden.

Eine Anmerkungen dazu: Da etwa von der Axpo ein starker Aussentemperatureinfluss auf den Stromverbrauch geltend gemacht wird, ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil des Stromverbrauchs für die Raumheizung verwendet wird – da lassen sich sehr gut Wärmepumpen einsetzen. Auf diese Art kann die grosse Zahl von Elektroheizungen ohne Mehrausstoss an Treibhausgasen durch Wärmepumpen ersetzt werden.


Nachtrag 28.3.2011

Rhetorik und Realität: Die neun Gemeinplätze des Atomfreunds nennt sich ein Artikel aus der FAZ vom 28.3.2011 von Frank Schirrmacher – weitere Anmerkungen erübrigen sich, es gibt wirklich keine Gründe für den Betrieb von Atomkraftwerken! – Danke an Balthasar Glättli für diesen Hinweis.

Erste Fassung 26.3.2011