Ihr nicht, wir auch

Die Reaktionen im In- und Ausland auf das unsinnige Ja der Stimmberechtigten zur Anti-Minarett-Initiative haben eines gezeigt: es gibt keine allgemein akzeptierte globale Grundwerte-Diskussion! Nach wie vor gilt „Ihr nicht, wir auch“ als Scheinregel – weil einzelne Rechte bei den „Anderen“ nicht eingehalten sind, müssen „Wir“ uns auch nicht daran halten.

Es mag tatsächlich zutreffen, dass der „Internationale Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte“ – möglicherweise ausgeprägt in der jüdisch-christlichen Tradition stehend – die Individualrechte überhöht, während der Islam als oberstes Prinzip über Staaten und Gemeinschaften steht, damit also Individualrechte allen anderen Vorgaben untergeordnet sind. Fakt bleibt: beiden Denkschulen ist in der real existierenden Form eigen, dass die goldene Regel der Ethik nicht umfassend umgesetzt wird! Ebenso gemeinsam ist, dass diese beiden Systeme dazu missbraucht werden, individuelle oder aus Gruppen-Egoismen entstehende Machtansprüche zu konkretisieren. Immer auch dienten unter diesem Machtaspekt religiöse Vertröstungen dazu, erhebliche soziale Ungleichgewichte gesamtgesellschaftlich zu legitimieren.

Vielen christlich geprägten Kulturen (letztlich basiert auch die Aufklärung auf christlichen Grundwerten) ist gemeinsam, dass durch die Überbetonung der individuellen Rechte das Verständnis für die Gemeinschaft ziemlich unterentwickelt ist und bestenfalls auf cariatative Brosamen beschränkt ist, bis hin zu den bis heute nachwirkenden Folgen der Prädestinationslehre („mir gehts gut, weil ich es verdient habe“).

Es ist daher in keiner Art und Weise überraschend, dass die Staaten mit einer langen christlichen Tradition global betrachtet ökonomisch dominant sind – und unter anderem deshalb einen massiv übermässigen ökologischen Fussabdruck aufweisen; dies wird aber tabuisiert: viel zu grosse Autos oder viel zu grosse Wohnflächen gelten gesellschaftspolitisch noch immer als akzeptabel, wer dagegen protestiert, wird mit dem Neid-Argument konfrontiert (welches letztlich das Fundament in den Menschenrechten hat)). Die Geschichte der Nachhaltigkeit, welche noch zu schreiben ist, wird zeigen, wie sich gerade in den reichen Staaten die „weiche Nachhaltigkeit“ (ein bisschen besser als früher) gegenüber der „harten Nachhaltigkeit“ („Gesellschaft und Wirtschaft müssen sich an die Endlichkeit des Planeten Erde anpassen“) durchgesetzt hat!

Es gibt also keinerlei Veranlassung, das „westliche System“ überheblich zu betrachten (auch wenn es durchaus Verbesserungspotential hat). Die Konkretisierung dieser Menschenrechte im „westlichen System“ ist derart weit vom Ideal entfernt, dass selbst diktatorische oder autokratische Systeme ohne grössere Schwierigkeiten Kritikpunkte im Stil von „Ihr nicht, wir auch“ finden.

Dass Parteien wie die SVP Anlass finden, von diesen Menschenrechten Abstand zu nehmen, lässt auch daran zweifeln, dass diese Prinzipien selbst in „westlichen Staaten“ bereits eine selbstverständliche Verankerung erfahren haben.

Auf jeden Fall: die Menschenrechte brauchen dringend eine Weiterentwicklung, damit sie tatsächlich einen Beitrag für eine ethischere Welt leisten können. Einmal mehr: der Weltethos könnte dazu mit seinen Verpflichtungen Ausgangspunkt gelten:

  1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben,
  2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung,
  3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit,
  4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau.

Eine schwierige Situation ergibt sich insbesondere, wenn Religion und Staat eine eng verflochtene Einheit bilden – dies gilt derzeit insbesondere für die islamische Welt. Wenn die heute auch im Alltag zu beachtenden Gesetze auf einen Religionsstifter zurückgehen, der vor mehreren Jahrhundert gelebt hat, kann dies nicht wirklich gut gehen. Nicht nur hat sich die Weltbevölkerung von 300 bis 400 Mio Menschen zu Lebzeiten etwa von Mohammed unterdessen rund verzwanzigfacht; es hat insbesondere in den letzten 50 Jahren eine erhebliche technologische Entwicklung eingesetzt, verbunden mit grundsätzlich anderen ökonomischen Voraussetzungen. Eine 1500, 2000 oder noch mehr Jahre alte Buchstabenreligion ist schlicht untauglich für die Regelung des alltäglichen Umgangs der Menschen miteinander – diese Regeln für das Zusammenleben müssen zwingend in einem demokratischen Prozess erarbeitet werden und dürfen sich nicht auf unterdessen sinnleere Glaubensphrasen aus einer Zeit vor sehr vielen Jahrhunderten abstützen!

Flugzeug, Auto, Handy, Computer, Digitalkameras, Internet, Fotovoltaik und vieles mehr gab es zu Zeiten der historischen Religionsgründer noch nicht, deren Nutzung ist in den auf die Gründer zurückgehenden Schriften weder erwähnt, vorgesehen, noch geregelt – und trotzdem nutzen Juden, Christen, Moslems (genau wie die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften oder Nicht-Glaubende) diese Errungenschaften der Gegenwart. Da müsste es doch eigentlich auch selbstverständlich sein, zum Beispiel bei der Gleichstellung der Geschlechter endlich die dringend nötigen Verbesserungen zu erreichen!

Und dann noch dies: eigentlich wäre die Türkei gemäss Staatsgründer ein laizistisches Gebilde. Allerdings wird diese Vorgabe durch die aktuelle Regierung massiv missachtet, auch durch die offensichtliche Bevorzugung des Islams und der offenen Benachteiligung anderer Religionen. Dass gerade die Türkei die lärmigste Position gegen die Anti-Minarett-Initiative eingenommen hat, ist einmal mehr ein Beispiel für „Ihr nicht, wir auch“ – oder anders: der SVP-Populismus ruft andere PopulistInnen auf den Platz, deshalb gehört die SVP dringend verboten.