Scheinheiligkeit bei China und IOC

Wenn in einer Demokratie ein Anliegen von grosser Wichtigkeit ist, gehört zu den Meinungsäusserungsmöglichkeiten auch das Demonstrationsrecht. Der Transport der Olympia-Fackeln durch London und Paris wurde durch die Wahrnehmung der garantierten Rechte gestört – die Geschäftemacherei und PR-Shows wurden berechtigterweise eingeschränkt.

Wenn in London 2000 und in Paris 3000 PolizistInnen aufgeboten werden, um die Olympiafackel – derzeit Symbol für Menschenverachtung und Ignoranz durch die chinesischen Führung – zu schützen, stellt dies in einer Demokratie eine Gewaltansage dar. Ein solches massives Aufgebot ist eine angekündigte Gewaltanwendung gegen das Recht auf Meinungsäusserung. Oder anders: wenn ein derart riesiges Polizeiaufgebot erforderlich ist, um einen Gegenstand zu schützen, ist ein Ereignis nicht demokratieverträglich! Nur ein gewalttätiger, diktatorischer Staat ist in der Lage, ein solches Symbol durch die Sicherheitskordone zu transportieren.

Wenn China diese Demonstrationen nicht versteht, hat die chinesische Führung erheblichen Lernbedarf! Es mag sein, dass die ExiltibeterInnen besonders aktiv an diesen Demonstrationen beteiligt sind. Gerade in Demokratien besteht ein ausgeprägtes Gespür dafür, wenn Menschen unterdrückt werden. Dass China in Tibet als Besetzungs- und Unterdrückungsmacht auftritt, ist offensichtlich. Dies bewegt viele Menschen in Demokratien dazu, sich für die unterdrückten TibeterInnen einzusetzen. Wer sich so verhält, darf nicht erwarten, dass die ursprüngliche Bedeutung der Olympiafackel die Realitäten im Gastgeberland der Sommerolympiade 2008 zu überdecken vermag. Wer mit der Olympiafackel automatisch einen trügerischen olympischen Frieden reklamiert, ist scheinheilig.

Es ist grundsätzlich falsch, dass der Fackellauf nun abgebrochen werden soll. Der chinesischen Führung muss gezeigt werden, dass ein grosser Teil der Menschen auf diesem Planeten mit der chinesischen Realität nicht einverstanden ist. Die Welt erwartet, dass das Olympia-Gastergeberland China endlich die Menschenrechte respektiert, die Welt erwartet, dass China gerade auch dank Olympia deutliche Schritte Richtung Demokratisierung unternimmt. Wenn der Fackellauf unterbrochen wird, macht sich das IOC zum Komplizen der chinesischen Führung, unterstützt sehr direkt die Verletzungen der Menschenrechte, akzeptiert ein diktatorisches Regime – da ergeben sich unweigerlich Erinnerungen an die Olympiade 1936 in Nazideutschland! Die Fokussierung auf den Fackellauf und die nach wie vor zu sanften Proteste des IOC gegen das nicht mit der olympischen Idee verträgliche Verhalten der chinesischen Führung ist scheinheilig (oder zu sehr an den Millionenerträgen orientiert).

Es gibt nur eines: noch vor den olympischen Sommerspielen 2008 muss China sichtbare und dauerhafte Verbesserungen im Bezug auf die Respektierung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten und bedrohten Völker unternehmen. Neben dem IOC und den nationalen olympischen Komitees muss dies auch von den Regierungen der demokratischen Staaten mit aller Eindringlichkeit gefordert werden.