Kirchenasyl und Sans-Papier

Das Kirchenasyl ist eine uralte Tradition – und geht zurück auf vorchristliche Heiligtums-Asyle, wo verfolgte Menschen Schutz vor Angreifern fanden. Wenn Sans-Papier Kirchen besetzen, wie seit Mitte Dezember 2008 die Predigerkirche in Zürich, so reklamieren sie für ihr Anliegen Asyl in Kirchen, den Gebäuden jener religiösen Institutionen, die für sich die anwaltschaftliche Rolle für Menschlichkeit in Anspruch nehmen. Ob das Kirchenasyl tatsächlich die richtige Form ist, ist durchaus zu diskutieren.

Dass es Sans-Papier gibt in der Schweiz, ist letztlich der Beleg dafür, dass die Migrationspolitik der von der SVP geprägten demokratischen Mehrheit – seien es Alt-Nationalrat Blocher oder Bundesrätin Widmer-Schlumpf – hochgradig gescheitert ist.

Über 100’000 Menschen sollen es in der Schweiz sein, die die papierlose (gleich ausweislose) Existenz in der Schweiz dem Leben in ihrem Herkunftsland vorziehen. Die Migrationspolitik umfasst mehrere Politikbereiche. Sozialpolitik, Innen- und Aussenwirtschaftpolitik, Integrationspolitik, Umwelt- und Klimaschutzpolitik, Entwicklungspolitik sind dazu einzelne Stichworte. In sämtlichen Politikbereichen versagt die Schweiz umfassend, eine Migrationspolitik zu formen. Die finanziellen Mittel für die Entwicklungshilfe werden tief gehalten oder gar gestrichen. Klauseln zur Verhinderung von Sozial- und Oekodumping fehlen in den Aussenwirtschaftsverträgen. Wenn es um die Durchsetzung zwingender Standards im gesellschaftlichen, ökologischen oder sozialen Bereich geht – zum Beispiel im Zusammenhang mit der Exportrisikogarantie für den umstrittenen Ilisu-Staudamm – tut sich die Schweiz sehr schwer damit, ein Aussenhandelsgeschäft nicht zu realisieren, weil es minimalsten ethischen und moralischen Standards nicht genügt. Ebenso verhält sich die Schweiz beim Handel mit offensichtlich für militärische Zwecke geeigneten Gütern – selbst wenn diese augenfällig nicht für die (Selbst-)Verteidigung gegen „äussere Feinde“, sondern für die Machterhaltung der Eliten und damit die Unterdrückung der Bevölkerung gebraucht werden sollen. Auch sind die Umwelt- und Klimaschutzpolitik nicht wirklich auf Dauerhaftigkeit ausgelegt, weist doch die Schweiz nach wie vor einen massiv übermässigen ökologischen Fussabdruck auf. Die offizielle Schweiz unternimmt wenig bis gar nichts zur Verhinderung erzwungener Migration, obwohl sie mitverursachend für die Migrationsströme ist.

Die Schweiz ist letztlich ein Land von egoistischen ProfiteurInnen und ZechprellerInnen.

Sans-Papiers sind leider eine Tatsache; da Menschen nicht illegal sind (sondern sich höchstens nicht entsprechend den Vorschriften verhalten), muss die offizielle Schweiz das Versagen der Migrationspolitik endlich zur Kenntnis nehmen – Vergällung als nahezu einziges Instrument dieser Politik ist der Problemlage schlicht nicht angepasst. Wenn der Zürcher Regierungsrat Hans Hollenstein, immerhin Mitglied einer Partei mit dem C von „christlich“ im Namen, in dieser Situation das Gespräch verweigert, ist dies nicht nachvollziehbar – einmal mehr sitzt ein Vertreter der Drei-Affen-Haltung in der Zürcher Regierung. Wenn er sich schon nicht dazu aufraffen kann, als Verantwortlicher für die Migrationspolitik des Kantons Zürich mit den Sans-Papiers ins Gespräch zu kommen, so enttäuscht dieser Regierungsrat aus menschlicher Sicht: er könnte als Privatperson Hans Hollenstein, selbst unter Verzicht auf einen Ferientag, sich als Mensch, als interessierter Staatsbürger ein Bild von der Realität Sans-Papier machen.

Auch wenn Kirchen für das staatliche Fehlverhalten kaum Verantwortung tragen – sie haben sich im Gegenteil regelmässig gegen unsinnige Gesetzesänderungen in diesem Bereich gewehrt, ist es verdienstvoll, wenn Kirchgemeinden – in Erinnerung an das Kirchenasyl – die Besetzung durch die Sans-Papiers und deren Organisationen akzeptieren und auf die durchaus mögliche polizeiliche Räumung verzichten. Andererseits: auch dem Bleiberechts-Kollektiv kann nicht entgangen sein, dass die Kirchen keine direkte Verantwortung tragen für die rechtliche Situation der Sans-Papiers, dass aber Kirchen traditionell auf der Seite der Schwachen, also auch auf der Seite der Sans-Papiers, stehen. Ob es da zweckmässig ist, das Kirchenasyl übermässig zu strapazieren und daraus eine Nötigungsposition zu erarbeiten, ist eine andere Frage.