Allgemeine Verunsicherung

Minarett-Verbot, Ganzkörperschleier-Verbot – die aktuelle Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin bringt es auf den Punkt: die von aussen sichtbaren Merkmale einzelner Glaubensrichtungen verunsichern sie, deshalb versteht sie Burka-Verbote wie in Belgien und fordert eine Ausweitung! „Verunsicherung“ hat eine gewisse Verwandtschaft mit „Angst“, welche bekanntlich als RatgeberIn untauglich ist. Es lohnt sich, der gegenwärtigen allgemeinen Verunsicherung etwas nachzugehen.

Im Mai 2007 hat die DEZA – die Direktion des Bundes für Entwicklung und Zusammenarbeit die Broschüre „Die Schweiz in der Welt, die Welt in der Schweiz“ von Richard Gerster veröffentlicht. Ein Satz darin ist mir besonders aufgefallen: Unser heutiger Lebensstil basiert darauf, dass er anderen verwehrt bleibt. Klar ist: der Lebensstil der sogenannt reichen Länder dieser Erde geht zu Lasten späterer Generationen und anderer Weltgegenden. Blanker Zynismus ist es in einer solchen Situation, wenn sogenannte FreidenkerInnen postulieren: Sorg Dich nicht, geniess das Leben. Diese hedonistische Beliebigkeitsaufforderung bedingt beispielsweisen den „Heisshunger“ der Welt nach fossilen und nuklearen Energieressourcen – die Ölpest vor der US-Südküste, als Folge eines katastrophalen Unfalls der Tiefseebohrinsel Deepwater Horizon, in einer fast endlosen Reihe ähnlicher Vorfälle, ist die logische Konsequenz eines Lebensstils mit einem übermässigen ökologischen Fussabdruck.

Wahrscheinlich dürfte es nicht gelingen, in einem Konsens festzuhalten, was denn genau diesen Lebensstil ausmacht – etwas polemisch ist es sogar so, dass dieser Lebensstil geprägt ist durch die Optimierung der mittleren Unzufriedenheit einer pluralistischen Gesellschaft. Aus dieser Optik geht es darum, sämtliche prinzipiell randständigen gesellschaftlichen Interessensgruppen in einen Beliebigkeitskonsens einzubinden. Zur Illustration dient das Angebot der beiden Schweizer Grossverteiler Migros und Coop: Von „Slow Food“ über „Bio-Knospe Naturaplan“ und „Preis und Qualität“ bis zu „Prix Garantie“ oder „M-Budget“ gibts alles, was Kundschaft in die Läden lockt, damit diese via Cumulus oder Supercard kundengebunden werden können. Konsum als Beliebigkeitsangebot, obwohl längst bekannt ist, dass bewusster Konsum ein zentraler Aspekt eines nachhaltigen Lebensstils ist.

Ein relevanter Aspekt dieses nicht globalisierbaren Lebensstil ist die Maximierung der individuellen Freiheiten und Möglichkeiten zulasten des gesamtgesellschaftlichen Nutzens – bis zum trotz allem gesellschaftlich akzeptierten Exzess der Boni-Maximierung im Bankenbereich. Die Demokratie beschränkt sich letztlich darauf, den ökonomischen Ausgleich zwischen „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ mehrheitsfähig zu machen. Das Problem dabei: grossen Teilen der gesellschaftlichen AkteurInnen ist bewusst, dass dieser Lebensstil nicht verallgemeinerbar ist, dass diese Gesellschaft zu einem letztlich unberechtigerweise privilegierten Teil der Menschheit gehört. Dieses Wissen ist ein wesentlicher Teil der allgemeinen Verunsicherung.

Als wichtige gesellschaftliche Errungenschaft gelten zu Recht die allgemeinen Menschenrechte. Es ist davon auszugehen, dass diese Menschenrechte aus der Optik und mit dem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund der global betrachtet privilegierten Gesellschaften erstellt wurden. Die Geschichte zeigt, dass diese Menschenrechte insbesondere von relevanten Gruppen der islamischen Welt nicht als „allgemein“ wahrgenommen werden (ähnliches gilt somit auch für den Weltethos, welcher zwar von einer grossen Zahl von VertreterInnen von religiösen und nicht-religiösen Bekenntnissen unterzeichnet wurde, welcher aber in Europa entstanden ist). Da beispielsweise die Frage der Todesstrafe selbst bei engagierten VerfechterInnen der allgemeinen Menschenrechte umstritten ist, scheint es sehr unwahrscheinlich, einen globalen Konsens zu finden über verbindliche Menschenrechte. Ganzkörperschleier machen auch in Europa sichtbar, dass die hier als allgemein und global verstandenen Menschenrechte bei weitem nicht allgemein anerkannt sind. Dies trägt in erheblichem Umfang zur Verunsicherung bei.

Demokratische Systeme funktionieren nur, wenn auch die Machtausübung demokratisiert ist: MandatsträgerInnen sind abwählbar, sind Teil des Rechtsstaates (somit ist etwa die Willkür absoluter HerrscherInnen ausgeschlossen), auch wenn es eigentliche PolitikerInnen-Dynastien gibt, haben sich auch die einzelnen PolitikerInnen individuell dem Entscheid der WählerInnen zu stellen (eine Vererbung des Machtanspruchs ist ausgeschlossen). Demokratische Systeme erfordern die Konsensfindung – demokratisch gefasste Entscheide brauchen mindestens eine Stimme Mehrheit, selbst wenn diese Mehrheitsmeinung nicht der Auffassung der MandatsträgerInnen entspricht. Stabile Demokratien erfordern zudem, dass nicht systematisch immer die gleichen Gesellschaftsschichten in die Minderheit versetzt werden – wechselnde Koalitionen wie in der Schweiz oder mehr oder weniger regelmässig wechselnde Mehrheitsregierungen wie etwa in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien. Demokratische Systeme machen es zudem möglich, dass Meinungen und Positionen ohne langdauernden Gesichtsverlust für Parteien und PolitikerInnen verändert werden können.

Demgegenüber erfordern autokratische und hierarchische Systeme Gehorsam, Unterordnung (in Demokratien ist es – auch wenn gewisse Praktiken als „schlechtes Verlierertum“ als unschicklich gelten – Minderheiten möglich, andere Positionen zu vertreten, und gewisse Themen dadurch mit der Zeit mehrheitsfähig zu machen). Aus dies trägt zur Verunsicherung bei: dass es unabhängig von den anderslautenden Menschenrechten Menschen auf dieser Erde gibt, die bereit zu Gehorsam und Unterordnung sind.

Und dann die ganz grosse allgemeine Verunsicherung: ob sich letztlich demokratische oder Gehorsamkeits-/Unterordnungssysteme global betrachtet durchsetzen, ist offen – angesichts von diktatorischen Staaten wie China und den unbeholfenen Reaktionen der demokratischen Gesellschaften mit aus ökonomischen Gründen erfolgender Zurückhaltung bei kritischen Beurteilungen ist es fraglich, ob die Demokratie tatsächlich im Vorteil ist – dies gilt damit leider auch für die allgemeinen Menschenrechte.

Fazit: wenn echte und möglichst direkte Demokratie zum globalen Normalfall werden soll, dann muss sich zuerst der in vielen Demokratien vorherrschende Lebensstil des übergrossen ökologischen Fussabdruckes kräftig verändern. Es braucht einen demokratisch erreichten Lebensstil, welcher globalisierbar ist – der Lifestyle LOVOS „Lifestyle of Voluntary Simplicity“ bietet sich dafür an, und dazu braucht es keine Privilegien, die einem Teil der Menschheit verwehrt werden müssen! Dann fällt auch ein erster Teil der allgemeinen Verunsicherung weg – und es fällt wesentlich einfacher, diesen Lebensstil selbstbewusster und damit glaubwürdig gegenüber Gehorsamkeits- und Unterordnungssystemen zu vertreten, was es ermöglicht, die Vorteile einer nachhaltigen demokratisch geprägten deutlicher hervorzustreichen.