Tages-Anzeiger-Bierideen im Sommer 2007!

Vorurteile soll man von Zeit zu Zeit neu gruppieren, so das Sprichwort.

Ich pflege ein solches Vorurteil: ich spreche mich sehr dezidiert gegen die als Abstimmung aufgemachten Internet-Angebote von Zeitungen und Zeitschriften aus, siehe dazu ein bereits relativ alter Internet-Beitrag inklusive Anleitung, wie solche „Abstimmungen“ beeinflusst werden können. Im übrigen: mit den Stichworten „Abstimmungen Internet“ erscheint dieser Artikel bei Google sehr weit vorne, immerhin von etwa 1’080’000 Ergebnissen.

Ein Zitat aus diesem Beitrag: Warum bieten ausgerechnet Medien, oft als die vierte Staatsgewalt bezeichnet, derart penible Pseudo-„Abstimmungen“ oder -„Umfragen“ an? Offenbar sind sich die Medien daran gewöhnt, dass ihre Inhalte manipuliert werden. Oder es ist vielleicht ganz einfach so, dass die Medien gar nicht an der tatsächlichen Meinung ihrer Leserinnnen und Leser interessiert sind? Halten die Medien derart wenig von demokratischen Instrumenten, dass sie diese mit einfach manipulierbaren Spielzeugen lächerlich machen wollen? Soweit das Vorurteil – schon etwas älter, formuliert Ende 2002.

Der Sommer 2007 bot Gelegenheit, dieses Vorurteil neu zu gruppieren. Die Redaktion des Tages-Anzeiger-Teils „Stadt Zürich“ hatte die Idee, eine Sammlung von „Bierideen“ zusammenstellen und daraus von der Leserschaft die „Bieridee des Jahres“ per „Umfragen-Abstimmung“ ermitteln zu lassen. Verwendet wurde das „bewährte“ Instrument des Tages-Anzeigers mit einfachsten, jedem und jeder Internet-BenutzerIn zugänglichen Beeinflussungsmöglichkeiten. Und das Vorurteil hat sich bestätigt: diese Beeinflussungsmöglichkeiten wurden reichlich genutzt.

Dies lässt sich mit einer Grafik bestens illustrieren.Tages-Anzeiger-Bierideen im Sommer 2007!

Die Grafik zeigt den ungefähren Verlauf der „Abstimmung“. Schon schnell zeigte sich, dass VBZ-Entspannungsübungen, der Spielplatz Blatterwiese, die Letzigrund-Stahlmauer (eine TA-Erfindung, wer hat je geglaubt, dass Fussballspiele je gratis angeschaut werden können im Letzigrund?), das Loungeverbot und selbst die Skulptur am Tessinerplatz von den ZürcherInnen nicht als Bierideen interpretiert werden, auch wenn diese Themen in den Medien zum Teil ziemlich heftig gekocht wurden. Ein gewisses Bierideen-Potential haben kostenpflichtige Veloparkplätze – die „Panta Rhei“ und der „herrliche“ Slogan „Wir leben Zürich“ hatten eindeutige Favoritenposition.

Allerdings bloss bis nach 18 Uhr am 14. August 2007, 18 Stunden vor Schluss der Abstimmung! Bis um etwa 11 Uhr am 15. August kamen über 1000 „Stimmen“ gegen die kostenpflichtigen Veloparkplätze zusammen. Dies wiederum hatte eine Kettenreaktion zur Folge: gegen 800 „Stimmen“ kamen im Verlauf des Mittwoch-Morgens für respektive gegen „Wir leben Zürich“ zusammen. Im Tages-Anzeiger vom 16. August 2007 steht dazu: In der Nacht auf Mittwoch aber schossen plötzlich die Veloparkplätze nach vorn – was auf beste Computerkenntnisse der Velofraktion schliessen lässt. Auch die Nicht-Fans von „Wir leben Zürich“ haben allerdings den Computer im Griff – oder ist das gar die TA-Redaktion selbst, weil sie nichts dazu schreibt?

Vorurteil also bestätigt – zwar erwartet, aber unerfreulich. „Bieridee“ – das ist sehr abwertend. Immerhin waren es Profis, die sowohl „Wir leben Zürich“ als auch die „Panta Rhei“ konstruiert haben, der Urheber des Vorstosses für kostenpflichtige Veloparkplätze ist Mitglied einer etablierten politischen Partei. Hier waren also Menschen am Werk, die mit sicher vergleichbarer professioneller Einstellung wie die TA-JournalistInnen ihren Job ausfüllen. Es ist beschämend, dass die Arbeit von Profis mit derartigen stümpferhaften Werkzeugen wie dieser Pseudo-Internet-„Abstimmung“ beurteilt wird – es ist nicht auszuschliessen, dass derartige, nicht unbedingt ernsthaft gemeinte Beurteilungen nicht erwartete Auswirkungen im Berufsalltag haben. Wer will beispielsweise mit einer Agentur zusammenarbeiten, die die „Bieridee des Jahres“ zu verantworten hat?

Oder anders: die „Bieridee des Jahres“ ist die Bieridee-„Abstimmung“ der Tages-Anzeiger-Redaktion.