Konkordanz oder Regierung?

Es ist bereits geradezu langweilig: obwohl die Schweiz fundamentale Probleme zu lösen hat, ist jeweils ab Mitte Oktober bis Mitte Dezember die Aufmerksamkeit von Politik und Oeffentlichkeit von Gedankenspielen rund um die Bundesratswahlen bestimmt. In einer direkten Demokratie ist nicht zulässig, dass die Wahl der Exekutive das Politgeschäft dominiert.

Direkte Demokratie bedeutet: oberste „Macht“ im Staat ist die Mehrheit der Stimmberechtigten, und da diese Mehrheiten je nach Thema unterschiedlich sind, ist die Konkordanz, welche sich etwa im Kollegialsystem äussert, zwingend – im Gegensatz zu repräsentativen Demokratien, bei denen aus den periodischen Wahlergebnissen ein Regierungsauftrag abgeleitet wird (als Hinweis: die immer knapper werdenden Mehrheiten in diesen Systemen weisen auf ähnliche Schwierigkeiten hin). Das absurde System der Einzel-Majorzwahlen zwingt das Parlament allerdings geradezu, die Bundesratswahlen zu inszenieren. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit war dies allerdings von den Erfindern des Bundesstaates so angedacht: in der Konkordanz sind in der Exekutive weniger die inhaltlichen Fähigkeiten und Positionen gefragt, es geht in erster Linie um Knowhow im politischen Prozess – gefragt ist die Prozesstauglichkeit für die Beschaffung auch von knappen Mehrheiten. Gesucht sind für dieses Amt also Personen mit minimalster Narzissmuseignung – im politischen System ein offensichtlicher Widerspruch.

Da das Wahlsystem nur indirekt – über den für einen Sitz erforderlichen Stimmenanteil – ein Mindestquorum vorgibt, ist davon auszugehen, dass die im Parlament vertretene Parteienlandschaft sehr vielfältig ist, einzelne davon als grössere Gruppen – das ist in den letzten 100 Jahren eine der Konstanten der Politik. Es bestand seit einiger Zeit ein Konsens, dass die Exekutivämter von VertreterInnen der etwa vier Parteien mit dem grössten Stimmenanteil zustehen. Da diese vier grössten Parteien in National- und Ständerat allerdings nur etwa 80 % der Mandate besetzen, wird dieses System nun in Frage gestellt. Eine besondere Rolle spielt dabei die $VP, welche Parteistatuten höher gewichtet als die Bundesverfassung – es ist zu hoffen, dass die Prägung durch einen autokratischen, antidemokratischen Milliardär bald Geschichte sein wird.

Auch wenn sich PolitologInnen – wegen ihrer Prognosen (welche von vielen als „Prophezeihungen“ und nicht als Szenarien verstanden wurden) – nicht gerade beliebt gemacht haben in den letzten Wochen, hat der Politologe Michael Hermann einen interessanten Ansatz zur Bundesratszusammensetzung entwickelt: Vertretung der politischen Hauptblöcke (traditionell in der Sicht „Links“, „Mitte“ und „Rechts“) statt der einzelnen Parteien. Dies führt dazu, dass auf den „linken“ Block von SP und Grünen zwei Sitze entfallen, ebenso auf den „Mitteblock“ mit CVP, Grünliberalen und BDP; somit verbleiben für den „rechten“ Block mit $VP und FDP 3 Sitze. Auch wenn durchaus der Verdacht besteht, dass Herr Hermann versucht hat, eine logische Begründung für die aktuelle Verteilung der Bundesratssitzung zu formulieren, scheint dieser Vorschlag zweckmässig – was dazu führt, dass die Köpfe-Diskussion in die Blöcke verlagert wird, was der Sache sicher nur dienen kann (weil es dann nicht mehr um einen $VP-, SP- oder einen BDP-Sitz geht, sondern um die Auseinandersetzung zwischen politischen Nachbarn). Der Vorschlag von Michael Hermann entspricht einer nüchternen Logik – spannend, was die Politik und letztlich das Wahlgremium Vereinigte Bundesversammlung daraus macht.

Damit dieser absurde Zirkus nicht der eigentlichen Politik im Wege steht, braucht es dann, wenn diese nüchterne Logik nicht zum Tragen kommt, völlig neue Ansätze. Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen. Dazu gehört etwa die Erhöhung der Sitzzahl im Bundesrat auf 9 oder gar 11 Mitglieder, die Proporzwahl des Gesamt-Bundesrates durch die Vereinigte Bundesversammlung, allenfalls auch die Einführung von Staatssekretären. Bereits zu den Luxusanforderungen gehört die Formulierung von Hauptzielen/Hauptabsichten („Global Goals“) der Politik.

Unter den Regeln der direkten Demokratie – dazu gehört etwa, dass nicht die Stimmberechtigten, sondern das Parlament die Exekutive wählt – gibt es keine andere Lösung. Die Volkswahl des Bundesrates oder ein System mit Regierung und Opposition dürften der Intention des Konkordanz-Prinzips nicht entsprechen. Bei allen Zweifeln, ob Demokratien überhaupt in der Lage sind, die Anforderungen der Zukunft (z.B. Verminderung des übergrossen ökologischen Fussabdrucks) meistern zu können, dürfte die Erfolgsbilanz von Konkordanzsystemen deutlich besser sein als jene von Konkurrenzsystemen.