Herr Blocher, Sie sind unanständig!

Am Ustertag 2008 hat sich Alt-Nationalrat Christoph Blocher zum Thema „Anstand in der Politik“ geäussert – gemäss Tages-Anzeiger hat er dabei vor zu viel Anstand gewarnt. Allerdings hätte Herr Blocher gut daran getan, zuerst sich damit auseinanderzusetzen, was „Anstand“ ist. Weil er dies nicht getan hat, ist seine Rede schlicht unanständig – zu viel Anstand kann es nicht geben.

Anstand: eine klassische Worthülse! Würde man dazu 200 Leute befragen, würde man 400 Definitionen dafür bekommen. Ein Nachschlagen bei Wikipedia etwa ergibt einiges – als Zitate:

Anstand bezeichnet die „gute Sitte“ im Benehmen. Zweck des Anstands ist es, dem gesellschaftlichen Umgang durch Zügelung der individuellen Willkür Formen bereit zu stellen, die als Ausdruck grundlegender Wertvorstellungen gelten sollen.

Der anständige Mensch als Idealtypus des Weltbildes der Aufklärung respektiert in Einstellung und Verhalten die Persönlichkeit des Anderen und achtet darauf, dass dieser nicht bloßgestellt (Scham), gedemütigt (Hochmut) oder benachteiligt (Ungerechtigkeit) wird.

Persönlicher Anstand kann erlernt, jedoch nicht reglementiert werden; wohl aber können auf Prinzipien des Anstands beruhende Regeln oder Gesetze festgelegt und zur Geltung gebracht werden. Dies geschieht grundlegend in der Erklärung der Menschenrechte.

Anstand ist also das Bemühen einer Einzelperson, die Menschenrechte auf das individuelle Verhalten anzuwenden. Wenn Herr Blocher vor einem Zuviel an Anstand warnt, greift er einmal mehr fundamental die Menschenrechte an.

Dazu eine Geschichte: Ein aufstrebender Jurist hat sich das Vertrauen eines Unternehmers erworben. Als der Unternehmer stirbt, berät der Jurist die Nachkommen. Das Unternehmen habe keine Zukunft, da es kaum Eigenmittel gebe und die Marktchancen schlecht seinen. Der Jurist erhielt den Auftrag zum Verkauf des Unternehmens – er fand einen ungenannten Investor und handelte für diesen den Verkaufspreis aus: angesichts der düsteren Aussichten einigte man sich auf 20 Mio Franken anstelle des geschätzten inneren Wertes von 80 Mio Franken. Dieser Jurist war, wie im Tages-Anzeiger nachzulesen war, Christoph Blocher – und das Unternehmen war die Ems Chemie.

Die Verkäufer des Unternehmens wurden benachteiligt, weil ihnen nicht der dem Unternehmen entsprechende Wert erstattet wurde – weil diese Geschichte auch öffentlich wurde, wurden die Verkäufer auch gedemütigt. Die Inbesitznahme der Ems Chemie durch Christoph Blocher war also in hohem Mass unanständig. Auch auf den weiteren Pfaden seiner Vermögensvermehrung ist immer wieder Blocherscher Unanstand die treibende Kraft. Gerade diese masslose und auf den eigenen Vorteil ausgerichtete Unternehmenspolitik ist wesentliche Ursache der Finanzkrise, welche im September/Oktober 2008 ihren Höhepunkt erreichte – in diesem Zusammenhang mag heute tatsächlich niemand mehr von Anstand zu sprechen…

Diesen Unanstand hat Herr Blocher auch in die Politik und insbesondere in die SVP hineingetragen. Diverse SVP-Blocher-Kampagnen arbeiten bewusst mit Demütigung, Blossstellung und wollen bestehende Ungerechtigkeiten zementieren (zum Beispiel Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS), Arbeitsgruppe Südliches Afrika (ASA), die den Apartheids-Staat Südafrika unterstützte).

Anstand verbietet nicht die kritische Distanz zu Personen und Inhalt – im Gegenteil, Anstand verpflichtet dazu, genau hinzuschauen. Wenn andere gedemütigt, blossgestellt und ungerecht behandelt werden, verlangt der Anstand, sich dagegen zu wehren. Auch hier: es braucht nicht weniger Anstand, sondern sehr sehr viel! Wobei: Profiteure und Unanständige wie Herr Blocher haben nicht den Anspruch, dass man sich für sie wehrt!

Und dies an die Adresse der Verantwortlichen des Ustertages 2008: es zeugt nicht gerade von Klugheit, ausgerechnet Herrn Blocher zum Thema „Anstand“ sprechen zu lassen – hier wäre einE profesionelleR EthikerIn wesentlich geeigneter gewesen.