Gefühlte Demokratien

Wenn eine Schweizerin, ein Schweizer mit Menschen, die die Schweiz nicht oder nicht sehr gut kennen, ins Gespräch kommen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Qualität der Schweiz, die direkte Demokratie, gesprochen. Die vielen Volksabstimmungen auf allen Ebenen, die Mitwirkungsmöglichkeiten von Initiative bis Referendum, die Tatsache, dass auch Exekutivmitglieder zu Fuss oder mit dem Velo ohne Bodyguards unterwegs sein können, die gefühlte Demokratie in der Schweiz scheint eine USP (Unique Selling Proposition) der Schweiz zu sein. Lässt sich diese gefühlte Demokratie auch messen oder vergleichen?

Dass ein Autokrat mit Milliardenvermögen seit langen Jahren die Politagenda des Landes prägt, dass die Schweizer Demokratie regelmässig gegen international anerkannte Grundrechte entscheidet, dass die Parteifinanzen nicht offen gelegt werden müssen, dass die Schweiz wahrscheinlich keine Mafia hat, dafür eine direkte und stabile Verknüpfung von Politik und Wirtschaft, dass die Politik gerade auf kommunaler Ebene auf dem Prinzip der Selbstausbeutung, sorry, meine natürlich Freiwilligkeit, beruht, all dies ist in der öffentlichen Diskussion bestens bekannt. Geradezu gefördert wird auch, dass rund 20 Prozent der mündigen Einwohnenden dieses Landes von den demokratischen Abläufen ausgeschlossen sind.

Eine Messung von Demokratie ist wahrscheinlich nicht möglich – oder anders: jedes Land hat die Demokratie, die die Mächtigen und die von ihnen versammelte Mehrheit will. Vergleichende Überlegungen zum Grad der Demokratie lassen sich sehr wohl anstellen. Wenn die englische Zeitschrift The Economist regelmässig einen Demokratie-Index erstellt, in dem die Schweiz zwar nicht gerade an der Spitze, aber immerhin auf dem achten Platz – ziemlich vorne bei den funktionierenden Demokratien – eingereiht wird, nimmt die Öffentlichkeit dies mit einem eher desinteressierten, geradezu neutralen Schulterzucken zur Kenntnis.

Da es um einen Vergleich, nicht um eine Messung geht, haben derartige Arbeiten immer auch einen etwas arbiträren Charakter. Selbst unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist eine Auswahl der zu berücksichtigenden Kriterien erforderlich.

Erstaunlich, welcher Aufschrei zumindest in den Internet-Stammtischen ein solcher Demokratievergleich der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin unter dem Titel „Schweizer Demokratie im internationalen Vergleich mittelmässig“ auslöst. Festzustellen ist, dass die Kritikpunkte, die zu einer Einstufung der Schweiz im Mittelfeld (der 30 funktionierenden Demokratien) führen, durch die Demokratie Schweizerischer Prägung gewollt sind, respektive Veränderungen nur durch eine Minderheit angestrebt werden.

Erschreckend: nur 30 der rund 180 Länder dieser Erde gelten als funktionierende Demokratien! Die auch in der Schweiz als Erfolgsmodell gehandelte Demokratie kann sich offenbar als genereller Ansatz nicht durchsetzen. Sowohl bei den wissenschaftlichenVergleichen wie bei den öffentlichen Diskussionen über den Mittelfeldplatz der Schweiz müsste sich viel eher die Frage stellen: was können Wissenschaft und Politik in der Schweiz dazu beitragen, dass sich die Demokratie weltweit verstärkt ausbreitet? Russland etwa – nicht in der Liste der funktionierenden Demokratien enthalten – sagt regelmässig, es brauche keine Lehrmeister, man nehme ausserhalb Russland das politische System nicht richtig wahr. Auch die Internet-Stammtischler in der Schweiz reagieren identisch auf die wissenschaftliche Studie, statt endlich die längst anerkannten Mängelpunkte der real existierenden Demokratie in der Schweiz anzugehen.