Staatskirchenrechtliche Strukturen als Rettungsanker für die katholische Kirche

Kennen Sie den schon? Da traf ich kürzlich einen Kollegen auf dem Zürcher Paradeplatz. Zu Fuss unterwegs mit einem riesigen, uralten Velo. Wir hatten beide ein bisschen Zeit, so kamen wir ein bisschen ins Plaudern, über dieses, über jenes. Als die Zeit kam, als jeder von uns seines Weges ging, fragte ich, wass er denn mit diesem Velo wolle. „Ja, damit fahre ich jetzt nach Chur, zum bischöflichen Schloss, und erkläre Bischof Vitus Huonder, wie der Rücktritt funktioniert“.

An diesen Witz erinnerte ich mich, als ich das Interview mit Hans Küng, dem streitbaren, klugen Tübinger Theologe und fundierten Kritiker der katholischen Kirche, aus der Südostschweiz am Sonntag las (aus dem Medienspiegel der katholischen Kirche im Kanton Zürich). Hier spricht Hans Küng aus, was viele KatholikInnen im Bistum Chur denken. Der Churer Bischof Vitus Huonder leidet offensichtlich an seinem Amt, er leidet an den Widersprüchen dieser katholischen Kirche, er leidet an der Verpflichtung, in der Volkskirche eine zumindest regional wichtige Leitungsfunktion auszuüben, in einer Kirche, die bei den Gläubigen derzeit erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme hat. Sichtbar gewordenes Zeichen dieses Leidens ist die mehrfache Äusserung des Bischofs, nicht zu wissen, warum denn der Regens des Priesterseminars, Ernst Fuchs oder der Generalvikar für Graubünden, Andreas Rellstab, demissioniert haben.

P.S. Auch wenn das Leiden institutionalisierter Teil des katholischen Glaubens ist: wer an der Leitung eines Bistums leidet, trägt erheblich dazu bei, die Kirche an die Wand zu fahren. Und da bleibt nur eines: Rechtzeitig den Rücktritt in Gang setzen, gemäss dem Vorschlag von Hans Küng!

Die katholische Kirche hat wie viele Institutionen, die sich auf einen historischen, allenfalls metaphysisch präsenten Gründer berufen, ein gewaltiges Problem: in den zweitausend Jahren seit den Zeiten von Jesus hat sich eigentlich alles verändert. Nun könnte man diesem Religionsgründer in seiner göttlichen Allmacht auch eine absolute Zukunftswahrheit zuhalten, was bedeuten würde, dass dieser Mensch gewordene Gottessohn die gesamten Entwicklungen der Erde bis zu ihrer voraussichtlichen Zerstörung in der sich in einigen Milliarden Jahren ausdehnenden „sterbenden“ Sonne gekannt hat, aber auch darüber hinaus. Die umfassende buchstabengetreue Interpretation etwa der Bücher des neuen Testaments war nie das Dogma der (katholischen) Kirche – den Pflichtzölibat etwa hat die katholische Kirche des 11. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung festgeschrieben! Der Zölibat mag, wenn völlig frei gewählt, eine erfüllende Lebensweise sein. Zumindest in der heutigen Zeit, mit deutlich anderen sozialen und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen, ist insbesondere die Verbindung von Zölibat und Priestertum kaum mehr zu vertreten. Nun ist es sicher nicht so, dass der Zölibat der einzige Diskussionspunkt in der Realität der katholischen Kirche ist. Die durch nichts zu entschuldigenden sexuellen und anderen Missbräuche im kirchlichen Umfeld stellen aber eine erhebliche Glaubwürdigkeitsbeeinträchtigung dieser priesterlichen Lebensform dar.

Als Zwischenbemerkung: wie schon bei der zwingenden Festsetzung des Pflichtzölibats müsste auch eine Aufhebung dieser Verpflichtung durch die höchste hierarchische Leitungsebene der katholischen Kirche erfolgen. Diese besteht nun allerdings aus lauter Männern, die für ihre kirchliche Karriere die zölibatäre Verpflichtung auf sich genommen haben. Wie sollen nun diese Männer, aus deren Sicht der Zölibat lebbar ist, überhaupt einen vom Pflichtzölibat abweichenden Entscheid fällen können – sie würden ja ihre bisherige offizielle Lebensweise in Frage stellen. Objektiverweise können hier Impulse nur von der Basis ausgehen – im Kanton Zürich beispielsweise von den staatskirchenrechtlichen Strukturen.

Bei der Erarbeitung der neuen Kirchenordnung der römisch-katholischen Körperschaft (auf der Basis des kantonalen Kirchengesetzes) zeigte sich die nach wie vor aktuelle Konfliktlinie: die staatskirchenrechtliche Organisation unterschied bei den kirchlichen Leitungspersonen auf Pfarreiebene nicht zwischen Priestern (Pfarrern) und fachlich qualifizierten LaiInnen (GemeindeleiterInnen), indem beide sowohl von der kirchlichen Leitung für dieses Amt beauftragt werden müssen als auch von der Legislative der zuständigen Kirchgemeinde gewählt werden müssen. Der Bischof widersetzt sich diesem Ansinnen. So hat er kurzerhand die Funktion der (nichtpriesterlichen) Gemeindeleitung umbenannt in „SeelsorgeraumassistentInnen“ – und geht davon aus, dass er damit die von der staatskirchenrechtlichen Körperschaft vorgegebene demokratische Wahl der nichtpriesterlichen Pfarreiverantwortlichen umgehen kann.

Die fehlende Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in einer pluralistischen, aufgeklärten Gesellschaft ist mit ein Grund dafür, dass sich immer weniger Männer aus dem eigenen geographischen Raum für ein priesterliches Amt zur Verfügung stellen – und ein grosser Teil jener, die dies tun, gehört zum kirchlich konservativen bis sehr konservativen Spektrum, vermag also nur noch einen kleinen Teil der Gläubigen anzusprechen. Auf diese Weise bleiben zudem Frauen vom priesterlichen Dienst ausgeschlossen – gesellschaftspolitisch unakzeptabel in der heutigen Zeit! Dazu kommt: auch wenn die katholische Kirche vorgibt, Weltkirche zu sein, haben sich regional/national stark unterschiedliche Glaubensbiotope ausgebildet – und in vielen dieser Länder gibt es Männer, die dem Priesterbild von Bischof Vitus Huonder entsprechen. In den von ihm vorgesehenen Seelsorgeräumen würden solche Pfarrer zu in der kirchlichen Universalsprache Kirchenlatein vor sich hin murmelnden Sakramentsspende-Robotern, unterstützt von zwar die seelsorgerische und karitative Arbeit leistenden, aber nicht leitungsberechtigten SeelsorgeraumpflegerInnen (sorry, heisst natürlich „SeelsorgeraumassistentInnen“). So kann Kirche beim besten Willen nicht funktionieren – wenn die Kirche gesellschaftspolitische Relevanz haben soll, braucht sie zuerst glaubwürdige BotschafterInnen – Menschen, die im Leben stehen und durch ihr Wirken und ihre Worte zeigen, welche Bedeutung und welche Unterstützung das Christentum für das tägliche Leben bedeutet. Wenn dies nicht passiert, hat diese Kirche schlicht keine Existenzberechtigung mehr. Auch hier spielen die staatskirchenrechtlichen Strukturen eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die kirchlichen Mandatsträger moralisch und ethisch in die Pflicht zu nehmen.

Insbesondere Generalvikar Martin Grichting plädiert – interessanterweise wie die Frei-DenkerInnen – für die absolute Trennung von Kirche und Staat. Möglicherweise schwebt ihm anstelle der staatskirchenrechtlichen Grundlagen so etwas wie eine katholische Scharia vor. Allerdings hat eine katholische Kirche mit eigener, innerkirchlich geprägter Rechtsschreibung und -setzung keinerlei gesellschaftspolitische Relevanz. Die absolute, vielstöckige Hierarchie und die ausgeprägte Männerdominanz vertragen sich nicht mit den zivilgesellschaftlichen Ansprüchen, wie sie beispielsweise in den Grundsätzen der französischen Revolution – Gleichheit, Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit (modifiziert aus dem ursprünglichen Begriff „Brüderlichkeit“) – festgehalten sind. Die katholische Kirche braucht die staatskirchenrechtlichen Strukturen, damit sie nicht noch mehr zum eigengesetzlichen, geheimen Männerbund verkommt.

P.S. Für nicht so Velokundige: der „Rücktritt“ ist die Bremseinrichtung an älteren, sogar uralten Velos (in Ländern, in denen Velos Fahrräder heissen, ist diese Bremsmethode nach wie vor geläufig). Diese Velos bremsen, wenn man kräftig rückwärts, also gegen die übliche Richtung, in die Pedalen tritt.

Interessenbindung: Toni W. Püntener ist als KTA (Katholik trotz allem) Mitglied der Synode (=Kirchenparlament) der römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich als Synodal der katholischen Pfarrei St. Theresia (Zürich Friesenberg).