Gesundheitswesen? Krankheitswesen?

Endlich hat das Bundesamt für Statistik einen Wachstumträger (zu deutsch: Beitrag zur Steigerung des Bruttoinlandproduktes BIP) ermittelt, nämlich das Gesundheitswesen (Medienmitteilung aus dem Jahr 2005 für 2003, neuere Zahlen hier. Seit mindestens 20 Jahren nehmen die Kosten des Gesundheitswesens wesentlich schneller zu als das gesamte Bruttoinlandprodukt, erst in letzter Zeit gibt es eine gewisse Verlangsamung. Eigenartig: alle, die sonst so lautstark nach einer Zunahme eben dieses Bruttoinlandproduktes schreien, runzeln die Stirne angesichts dieser Zahlen. Somit wird einmal mehr offensichtlich, dass das BIP kaum etwas mit dem Wohlstand zu tun hat.

Dieser Beitrag stammt ursprünglich vom März 2005 – die aktuellen Diskussionen über die ständig steigenden Krankenkassenprämien erfordern nur leichte Anpassungen, die Situation hat sich in diesen vier Jahren nicht wirklich verändert.

Was wird denn von den Statistikerinnen als Ursache für die Zunahme des BIP-Beitrages des dieses Wirtschaftssektors angenommen? Es ist wie nicht anders zu erwarten ein grosses Spektrum:

  • alle AkteuerInnen (Angebot und Nachfrage) tragen zur Kostensteigeruzng bei.
  • wachsende Spezialisierung und Technisierung
  • die zunehmende Anzahl privat praktizierender ÄrztInnen
  • die Entwicklung neuer, kostspieliger Medikamente (das unmässige und unanständige Millioneinkommen der obersten Chefs der Chemiefirmen lässt grüssen)
  • die strukturelle Entwicklung der Bevölkerung (meint die Veränderung der Altersstruktur, dazu gehört die Zunahme der Langzeitpflege, die SchweizerInnen werden zwar älter, aber nicht gesünder) und der Haushalte (abnehmende Haushaltsgrösse)
  • die abnehmende soziale Solidarität (Selbsthilfe, ehrenamtliche Tätigkeit usw.) – offenbar ist das Gesundheitswesen bis anhin zu einem nicht unbedeutenden Teil auf Selbstausbeutung angewiesen gewesen.
  • der verbesserte Zugang der Bevölkerung zu qualitativ hoch stehenden Pflegeleistungen.

Das Gesundheitswesen ist eigentlich ein Krankheitswesen – es geht in erster Linie nach wie vor darum, die Symptome von „Krankheiten“ zu bekämpfen. Einige Stichworte dazu:

  • Luftschadstoffe schaden der Gesundheit – sie stammen zu einem massgeblichen Teil aus dem motorisierten Strassenverkehr. Trotz technologischem Fortschritt nehmen die Belastungen nicht entscheidend ab.
  • Lärm prägt die Lebensrealität von nach wie vor sehr viel Menschen – Strassenlärm, Bahnlärm, Fluglärm, Nachtlärm aus diversen Quellen. Lärm hat negative Auswirkungen auf die Desundheit.
  • Sehr viele Krankheiten sind nicht wirklich Krankheiten, sondern sogenannte Zivilisationserscheinungen. Wesentlich mehr körperliche Bewegung brauchte der Mensch, um zu gesunden respektive weniger zu erkranken. Am besten jeden Tag, als Nebeneffekt zur Alltagsbeschäftigung. Treppensteigen, Einkaufen im Quartierladen, zu Fuss oder mit dem Velo zum Sporttraining, zur Musikprobe, und so weiter und so fort. Auch hier: das Auto konkurrenziert viele dieser Bewegungsmöglichkeiten.
    Nachweislich führt der Zwang zu hoher Eigenkapitalrendite und tiefem Steuerfuss zu erheblichen Belastungen (Stress) am Arbeitsplatz – und möglicherweise zu einem erhöhten Konsum von Genussmitteln, die nicht wirklich gesund sind, angefangen vom Kaffee über Zigaretten und z.B. gemürtsaufhellenden Medikamenten zu Drogen.
    Zu viel Zucker, zu viel Fett, zu viel tierisches Eiweiss, zu wenig Ballaststoffe (nicht zuletzt wegen des Billig-Fimmels der Dumping-Discounter): so lassen sich die heutigen Nahrungsmittel beschreiben. Diese müssen wieder zu Lebensmitteln werden, auf jeden Fall aus ökologischem Landbau.
  • Das Gesundheitswesen muss zu einem wirklichen Gesundheitswesen werden – nicht bloss ein bisschen Präventivmedizin. Gesundheitserziehung im Elternhaus und in der Schule, Gesundheitskurse im Berufsalltag und ähnliches müssen selberständlich werden.
  • Solange ausschliesslich Erwerbsarbeit als wertvoll gilt, ist es politisch nicht verantwortbar, dass ausgerechnet die Pflege von kranken und älteren Menschen zu einem gewichtigen Teil von Freiwilligenarbeit geprägt ist. Auch daher ist ein dringlicher Übergang von der bezahlten Erwerbsarbeit zum bedingungslosen Grundeinkommen für alle erforderlich.

Erste Fassung 21.3.2005