«Vegan» wird als Provokation wahrgenommen – begrenzte Veränderungsgeschwindigkeit?

Was noch vor 20 oder30 Jahren die vegetarische Ernährung war – nämlich eine Provokation -, scheint derzeit auf die vegane Ernährungs- und Lebensweise übertragen zu werden. Ist das wirklich berechtigt?

Es ist bekanntlich schwierig, Bräuche aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verändern. Studien an der Einheit für Verhalten, Gesundheit und Tierwohl an der ETH Zürich haben etwa gezeigt, dass grosse (und laute) Kuhglocken das Wohl der sie tragenden Kühe einschränken könnten. Derartige Erkenntnisse seien gegen Traditionen, Sitten und Gebräuche eines gesamten Berufsstandes, meinte der Freiburger FDP-Nationalrat Jacques Bourgeois, Direktor des Schweizerischen Bauernverbands. Er verlangte, dass der «solche Auswüchse zu verhindern» habe.

Immerhin hat der Bundesrat in diesem Fall berechtigterweise die Forschungsfreiheit verteidigt – und festgehalten, dass es nicht auszuschliessen sei, dass es tatsächlich Auswirkungen der lauten und schweren Kuhglocken auf das Tierwohl gebe. Zum Glück nur ein kleiner Sturm im Wasserglas – vielleicht trägt diese emotionale Episode dazu bei, derartige Forschungsergebnisse als das zu nehmen, was sie sind: Erkenntnisse, die eine kritische Auseinandersetzung auch mit Traditionen, Sitten und Gebräuchen erfordern.

Die Zwischendenjahren-Sauregurkenzeit hat die Gratiszeitung 20min dazu genutzt, auf eine Facebook-Gruppe zu diesem Thema aufmerksam zu machen – Kuhglocken sind „out“; dies als Fast-Copy-Paste aus einem Artikel in der Aargauer Zeitung.
20min ist zwar für LeserInnen gratis, hat aber natürlich trotzdem einen Preis – von den altpapier-überfluteten Zugsabteilen bis zu den qualitätsarmen Inhalten und Texten.

Nun kommt es: die Erstellerin dieser Facebook-Gruppe Kuhglocken sind „out“ ist Veganerin – und sie ist Holländerin, zwar seit einigen Jahren in der Schweiz lebend. Interessant ist nun, dass in den Kommentaren in den digitalen Online-Stammtischen zuerst der Aspekt «vegan» und fast gleichgewichtig «Ausländerin» thematisiert wird. Dabei ist weder die vegane Ernährungs- und Lebensweise noch der Aufenthaltsstatus dieser Kuhglocken-Kritikerin in dieser Frage relevant, sondern schlicht der Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Immerhin ein marginal positiver Aspekt zeigt sich bei der Stellungnahme von Schweiz Tourismus. Kuhglocken seine zwar der «Soundtrack der Alpen» (tja, das wäre mir noch nicht aufgefallen, und ich bin regelmässig in den «Alpen» unterwegs). Aber wenn die «die Experten einhellig zum Schluss kämen, dass die Glocken den Tieren schaden, würde man den Entscheid akzeptieren.» Erstens gibt es auch Expertinnen, zweitens ist «einhellig» ein schlechtes Kriterium, da es ja unterdessen zum Wissenschaftssport gehört, anderer Meinung zu sein als die Mehrheit, Stichwort «Mensch gemachter Klimawandel».

Vegane Ernährungs- und Lebensweise ist also derzeit noch eine Provokation, nachdem die vegetarische Variante unterdessen zu FlexitarierInnen (von mir auch als Teilzeit-VegetarierInnen bezeichnet) geführt hat. Klar ist, dass sowohl zur vegetarischen Ernährung als auch zum Flexitarismus immer auch vegane Gerichte gehören. Dabei wird allerdings bevorzugt, dies nicht an die grosse (Kuh-)Glocke zu hängen!

Auch wenn etwa die Fleisch-Lobby mit Realsatire-Kampagnen wie «Alles andere ist Beilage» unterwegs ist, ist einer ständig zunehmenden Zahl von Menschen klar, dass die menschliche Ernährung massgeblich zum ökologischen Fussabdruck beiträgt – und «weniger Fleisch» sowohl in der flexitarischen, vegetarischen und sogar veganen Ausprägung zwingend erforderlich ist. Die digitalen Online-Stammtische weisen darauf hin, dass allerdings bei derartigen Fragestellungen die Anpassungsgeschwindigkeit eine echte Herausforderung darstellt.