Kriminalisierung der ÖV-Wenig-NutzerInnen?

Auch wenn der öffentliche Verkehr erhebliche ökologische und ökonomische Vorteile gegenüber dem MIEF (sorry, MIV = motorisierter Individualverkehr) hat, ist auch der ÖV nicht aus Prinzip nachhaltig. Es ist also alles daran zu setzen, Verkehr, auch öffentlichen Verkehr, zu sparen! Die Tarifüberlegungen des Schweizerischen Verbandes öffentlicher Verkehr VÖV weisen allerdings in eine andere Richtung.

Wer im öffentlichen Verkehr kein Ticket hat, wird immer mehr kriminalisiert. Die ÖV-Verantwortlichen gehen absurderweise gegen alle Vernunft davon aus, dass verbotenerweise eine Leistung erschleichen möchte, wer bei einer Kontrolle bei einer Kontrolle im Verkehrsmittel kein Billett vorweisen kann. Die auf Dezember 2011 vorgesehene Einführung eines massiven Zuschlages auf die Billettkosten auch im Fernverkehr ist unrühmlicher Höhepunkt dieser Kriminalisierungstendenzen. Die Realität sieht anders aus: die VÖV-Verantwortlichen betrachten die ÖV-Benutzung nur aus Sicht der ÖV-Viel-NutzerInnen. IdealkundInnen des ÖV aus Sicht VÖV sind InhaberInnen von Generalabonnements (GA). Nur: alle ÖV-BenutzerInnen, bei denen sich das GA lohnt, haben zu grosse Verkehrsansprüche – selbst der energieeffiziente öffentliche Verkehr führt bei diesen Menschen zu einem zu grossen ökologischen Fussabdruck!

Für eine nachhaltige Entwicklung ist es von grosser Bedeutung, dass ein möglichst grosser Anteil des Alltagsverkehrs zu Fuss und mit dem Velo abgedeckt werden kann, ergänzt mit öffentlichem Nachverkehr (Trams, Trolleybusse, Busse). Fernverkehr per Bahn darf nicht zu den Alltäglichkeiten (der Durchschnittsbevölkerung) gehören! Das heisst: das GA-Angebot ist eindeutig als nicht-nachhaltiges Verkehrsangebot zu bezeichnen. Das Tarifsystem des öffentlichen Verkehrs hat sich an den Wenig-NutzerInnen zu orientieren. Eine potentielle Kriminalisierung der ÖV-Wenig-NutzerInnen, wie sie der VÖV vorsieht, liegt schlicht nicht drin.

Ich selber zähle mich auch zu den ÖV-Wenig-NutzerInnen aus ökologischen Gründen. Ich nehme zur Kenntnis, dass ich für die ÖV-Verantwortlichen ein nicht willkommener Kunde bin! Ich will dies an einigen Beispielen zeigen. Selbst im Zürcher Hauptbahnhof ist es hochgradig aufwändig, mit vertretbarem Zeitaufwand ein Billett zu lösen – ich kann selbst mit den unlogischen Billettautomaten bestens umgehen; als langjähriger Windows-Nutzer ist mir bestens bekannt, dass ich unlogisch bin und dass dieser Vorwurf nie für die Software gilt :-). Aber: häufig werden Noten, Karten oder REKA-Checks nicht akzeptiert, nicht nur deswegen sind die Warteschlangen vor den Automaten ziemlich lang (warum überrascht es nicht, dass ausgerechnet die Billettautomaten regelmässig Ausgangspunkt von Kreditkarten-Skimming-Attacken sind?). Selbst die elektronischen Ticket-Lösungen sind nicht für die ÖV-Wenig-NutzerInnen geeignet.

Als ein Ansatz: das Halbtax-Abonnement ist für ökologische ÖV-Wenig-NutzerInnen ein grundsätzliches Sympathie-Statement für den öffentlichen Verkehr. Mir persönlich ist gar niemand bekannt, der absichtlich und vorsätzlich ohne ÖV-Ticket unterwegs ist. Analog zu Mobiltelefonen sollte das Halbtax-Abo als Prepaid-Angebot sowohl im Nah- wie im Fernverkehr für die seltenen und gelegentlichen ÖV-Fahrten, die ohne Billett angetreten werden, genutzt werden können. Wer bei einer Kontrolle kein Billett, aber ein Halbtax-Abo vorweisen kann, soll keinen kriminalisierenden Straf-Zuschlag bezahlen müssen, sondern neben den Billettkosten allerhöchstens einen Administrativ-Fünfliber für das Kaufen des Billetts im Zug. Auch die progressive, nicht löschbare Steigerung der Zuschlagsstrafgebühr bei wiederholter Kontrolle ohne Billett könnte so entfallen.

Es wird spannend sein, ob es dem öffentlichen Verkehr gelingt, eine Lösung zu finden, die ohne Kriminalisierung der ökologischen ÖV-Wenig-NutzerInnen auskommt.