Whistleblowing: keine Handlungsoption!

Whistleblowing ist keine Handlungsoption in einer rechtsstaatlichen demokratischen Gesellschaft. Whistleblower begehen mindestens eine Rechtsverletzung, häufig auch strafbare Handlungen. Whistleblowing ist im Grundsatz ein kriminelles Vorgehen, welches in der Regel nicht taugt, echtes oder vemeintlich kriminelles anderes Vorgehen ans Tageslicht zu bringen. Völlig verfehlt ist es, wenn Whistleblower noch mit Preisen wie dem Prix Courage ausgezeichnet werden.

„Gleichheit“ ist ein Grundsatz der französischen Revolution, „Gleichheit“ ist auch ein wichtiges Element der Demokratie. „Gleichheit“ als Losung kann weder „lokal“ noch „global“ die herrschenden ökonomischen Ungleichheiten beseitigen. Das marktwirtschaftliche System der Konkurrenzwirtschaft will SiegerInnen und VerliererInnen, funktioniert sogar nur mit der Hoffnung auf Ungleichheiten.

Viele Sportarten leben auch vom Konkurrenzprinzip, wollen SiegerInnen sehen (was automatisch zu sehr vielen VerliererInnen führt). Die meisten Sportarten erfordern ein umfangreiches Regelwerk – die Auslegung und operative Umsetzung liegt in der Verantwortung von SchiedsrichterInnen. Auch SchiedsrichterInnen können sich irren, unabhängig davon, ob dies unfreiwillig oder absichtlich, zum Beispiel aufgrund von versprochenen Vorteilen (=Bestechung), erfolgt. Auch beim Sport ist Willkür nicht auszuschliessen, absolute Gerechtigkeit ist nicht garantiert.

Auch Gesellschaft, Wirtschaft und Politik kennen ausgeklügelte Regelwerke, nicht immer widerspruchsfrei, nicht immer alle möglichen Eventualitäten abdeckend. Bei diesen vielfältigen Regeln geht es immer darum, einen Ausgleich zu schaffen zwischen individuellen und „gesellschaftlichen“ Ansprüchen.

Eine mögliche Haltung in diesem Interessenausgleich wird insbesondere von der $VP geradezu gehätschelt: „die anderen profitieren viel mehr vom System – die Allgemeinhein hindert mich daran, dass es mir besser geht“. Das System wird als unfair wahrgenommen, „andere“, durchaus als geheime Macht verstanden, werden verdächtigt, von diesem System übermässig zu profitieren.

Die Regelwerke sind mit Sicherheit nicht fehlerfrei, auch sind diverse Abläufe jederzeit verbesserungsfähig. Und gerade in einer direkten Demokratie gehört der kontinuierliche Verbesserungsprozess zum System. Und dies unabhängig davon, dass dieses System träge ist, dass es gelegentlich mehrere Anläufe braucht, dass letztlich nur Verbesserungen möglich sind, die eine Mehrheit finden.

Wer „geheime Mächte“ oder „unwillige AkteurInnen“ hinter echten oder vermeintlichen Unzulänglichkeiten des Systems vermutet, wird kaum an einem Verbesserungsprozess interessiert sein, sondern legt es auf die Massregelung von Einzelpersonen aus.

Ein zentraler Aspekt ist die Ortung von Zuständigkeiten. Ich erlebe sehr häufig, dass bei Diskussionen über Veränderungsmöglichkeiten Phrasen wie „Me sött“ (Man sollte) oder „Die müend nume“ (Diese müssen nur) verwendet werden, selbst von Menschen, die schon lange mit derartigen Themen beschäftigt sind. Direkte Demokratie erfordert ein hohes Mass an institutionellem und prozessmässigem Wissen. Als ein Beispiel: das Reglement über die Eigenhandelsgeschäfte der leitenden Mitarbeitenden der Nationalbank wird nicht von „Me“ oder „Die“ beschlossen, sondern vom Bankrat der Schweizerischen Nationalbank, einem Gremium von elf Personen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, ein Gremium auch, von dem alle Namen bekannt sind, siehe die entsprechende Internet-Seite der Schweizerischen Nationalbank. Der nachmalige Whistleblower (egal ob IT-Mitarbeitender oder Kundenberater der Bank Sarasin) in der Affäre Blocher-Lei hätte mit einer zuerst internen Nachfrage – die zuständigen Gremien bestehen bei den Banken – „Wie vertragen sich die diversen Devisentransaktionen vom Konto der Familie Hildebrand mit den Eigengeschäftsvorstellungen der Schweizerischen Nationalbank?“ eine konstruktiven Prozess in Gang setzen können. Wenn dies nicht gelungen sein sollte, wird es zwar heikler, aber bewegt sich noch im Rahmen einer entschuldbaren Rechtsverletzung: die gleiche Frage zuhanden des Präsidenten des Bankrates der Schweizerischen Nationalbank.

Einverstanden, das ist ziemlich aufwändig, aber immerhin konstruktiv. Die definitiv kriminelle Weitergabe von Dokumenten an Personen ausserhalb des Zuständigkeitskreises verbunden mit der Behauptung „Die Dokumente belegen massive Devisenspekulationen, die kaum mit der Eigengeschäftsregelung der SNB vereinbar sein können“ ist demgegenüber nicht konstruktiv und erschwert den Verbesserungsprozess.

Auch das Beispiel der als Couragierte ausgezeichneten, aber trotzdem vom höchsten Schweizer Gericht verurteilten Esther Wyler und Margrit Zopfi zeigt, dass WhistleblowerInnen sogar dem Verbesserungsprozess aktiv im Weg stehen können. Frau Wyler war bei der Stadt Zürich als Controllerin angestellt – mindestens ihre Vorgehensweise zeigt klar auf, dass sie ihren Job nicht gemäss Pflichtenheft ausgeführt hat. Und gerade eine Controllerin muss über sehr gute Kenntnisse zu den gesetzlichen und formalen Grundlagen verfügen. Das heisst: die Erkenntnisse aus dem Controlling braucht es zwingend, um den Prozess verbessern zu können. Wenn eine Controllerin die echten und vermeintlichen Fakten anhäuft, um sie bei Gelegenheit den Medien zu übergeben, erfüllt schlicht den Job nicht. Einverstanden, auch hier wäre korrektes Vorgehen aufwändiger, mit mehr Durchsetzungsvermögen und voraussichtlich Unannehmlichkeiten verbunden.

Diese beiden Beispiele von Whistleblowing zeigen exemplarisch, dass WhistleblowerInnen auf die individuelle „Bestrafung“ echter oder vermeintlicher „TäterInnen“ hinarbeiten. Monika Stocker ist nicht wegen den „Erkenntnissen“ der WhistleblowerInnen als Stadträtin von Zürich zurückgetreten, sondern weil sie berechtigterweise nicht akzeptieren wollte, dass BezügerInnen von Sozialleistungen prinzipiell dem Generalverdacht unterstellt werden, unberechtigterweise staatliche Leistungen zu erschwindeln. Um dies mit einem Beispiel zu illustrieren: dieser Generalverdacht würde beim öffentlichen Verkehr dazu führen, den öffentlichen Verkehr abzuschaffen, weil es keinen Ansatz gibt, um das Fahren ohne Billett mit absoluter Sicherheit auszuschliessen.

Whistleblowing ist, da nicht demokratieverträglich, in keiner Art und Weise zu unterstützen. Was nötig ist: deutlich verbesserte Prozess- und Verfahrenskenntnisse der offiziellen AkteurInnen – jeder Beschäftigte, jede Beschäftigte muss wissen, wer für Fragen „aus dem Bereich Ethik und Moral“, die sich aus der täglichen Arbeit ergeben, zuständig ist, und zwar in Rahmen der ordentlichen Prozesse als auch im Sinne des Aufsichtsrechts. Einzig hier ist, falls noch nicht vorhanden, die arbeitsrechtliche Sicherstellung von kritischen FragerInnen zu gewährleisten.

Ich habe verschiedentlich und mit Absicht festgehalten, dass Beiträge zum Verbesserungsprozess in Frageform daher kommen sollten. Die Erfahrung zeigt, dass Fragen wesentlich besser dazu geeignet sind, Denk- und Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Falls es nicht möglich ist, zu einem Sachverhalt Fragen zu formulieren – etwa darum, weil die Fakten (vermeintlich) offen auf dem Tisch liegen -, ist nicht Whistleblowing angesagt, sondern der Gang zur Polizei. Whistleblowing hat nichts mit Courage zu tun, sondern offenbart Feigheit und Unfähigkeit.

Ein Gedanke zu „Whistleblowing: keine Handlungsoption!“

  1. herzlichen dank! dass der tagi nun auch noch handlungsanleitungen für dieses vorgehen abdruckt und sich dann als empfänger von nachrichten lobt, als zeitung die dann seriös recherchiere etc. finde ich eine merkwürdige anwerbung für geschichten. gleiches taten auch andere zeitungen, die im fall des zürcher sozialamtes ganz und gar subjektiv berichteten. die sogenannten heldinnen werden grad auch nochmals gefeiert, wenn ein gericht sie verurteilt. ein merkwürdig enges blickfeld…

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