Was tut die Natur?

Über 100’000 Menschen sind dem Meeresgrundbeben im Westen Sumatras und der dadurch ausgelösten Tsunami-Flutwelle zum Opfer gefallen.

Und dies ausgerechnet am 2. Weihnachtstag, an einem Feier- und Ferientag!

Die grosse Zahl von getöteten Menschen, von Menschen, die ihre Liebsten verloren haben, denen das
Dach über dem Kopf zerstört wurde, deren ökonomische Existenz vernichtet wurde, macht betroffen,
nachdenklich, traurig – und verlangt genau darum nach Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Reaktion.

Eine Naturkatastrophe sei dies, im Unterschied zu einer menschgemachten Katastrophe.
Eine Naturkatastrophe?
Das Aneinanderreiben von kontinentalen Platten gehört zu den grundsätzlichen Funktionsmechanismen des Planeten Erde. Schon lange vor der Anwesenheit der Menschheit auf der Erde gab es derartige Vorkommen – ohne sie gäbe es beispielsweise die Alpen nicht. In geologischen Zeiträumen betrachtet, handelt es sich bei diesem Ereignis somit um Alltag. Das Leben auf diesem Planeten muss dauernd damit rechnen, regelmässig in existenzbedrohene Situationen gebracht zu werden: Vulkanausbrüche, Erdbeben, Erdrutsche, Lawinen, Bergstürze, Stürme, Überschwemmungen, …

„Tand, Tand ist das Gebild von Menschenhand“ lässt Theodor Fontane die Naturgewalten im Gedicht
Die Brücke am Tay“ sagen,
die sich gegen die Brücke und den darüber fahrenden Zug verschworen haben. Trotz aller Ingenieurskunst, den aufwändigen Berechungen und Dimensionierungen sind die Naturgewalten stärker; die Brücke zerbirst, der Zug versinkt in den Fluten, Brücke und Zug sind eben bloss „Tand aus Menschenhand“, auch wenn die Menschen im Zug und am Ufer dies anders wollen.

Die Menschheit muss zur Kenntnis nehmen, dass sich die Naturgewalten nicht dem menschschlichen Machbarkeitswahn beugen, dass es Natur-Grenzen für das menschliche Wollen und Tun gibt. es wird wohl nie möglich sein, sämtliche Folgen von grossen Natur-Alltags-Ereignissen für Mensch und Umwelt zu vermeiden (auch hier stehen
nämlich die Naturgewalten gegen den menschlichen Machbarkeitswahn) – aber es darf nichts unversucht gelassen
werden zur Verminderung der Folgen. Auch wenn es eine hohe Zahl von möglichen Risiken gibt: zumindest auf Ebene
der verantwortlichen Behörden sind mögliche Gefahren zu identifizieren, Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen und allenfalls Alarmsysteme zu etablieren. Das amerikanische Tsunami-Warnsystem für den Pazifikbereich hat bereits eine Viertelstunde nach dem gewaltigen Erdbeben reagiert und ein Bulletin dazu herausgegeben, nach dem für die Pazifikregion keine Tsunami bestand. Wegen fehlender konkreter Informationen zu den Wasserbewegungen in der Erdbeben-Region dauerte es etwas mehr als eine Stunde, bis die WarnerInnen sich zur Situation im Indischen Ozean
äusserten (Details). In unmittelbarer Nähe des Epizentrums käme jedes menschgemachte Alarmsystem zu spät – da helfen nur geeignete Vorsorgemassnahmen.

Dort, wo vom Beben bis zum Eintreffen der Tsunami-Wellen eine oder mehrere Stunden vergehen, hätte sich mit
einer organisierten Alarmierung einiges an menschlichem Leid verhindern lassen.
Im übrigen: Weil die
Gebiete um den Indischen Ozean zumindest teilweise Zielorte des Massentourismus aus europäischen Ländern sind und sich damit in den Kamera-Objektiven der europäischen Medien befinden, dürften sich ausnahmsweise die Wiederaufbauabsichten der europäischen Staaten nicht auf blosse Lippenbekenntnisse beschränken – hoffentlich nicht zu Lasten von Menschen in anderen benachteiligten Gebieten dieser Erde!

Eine Medienmitteilung der UNESCO vier Tage nach dem Ereignis lässt aufhorchen, aus zwei Gründen:

  • Die UNESCO lässt abklären, welche menschgemachten Einflussfaktoren die Auswirkungen des Tsunami verstärkt haben – und nennt die
    Abholzung der Mangrovenwälder oder die Zerstörung der Korallenriffe.
  • Vom Erdbeben und der Flutwelle sind sowohl UNESCO-Weltkulturerbe- als auch UNESCO-Weltnaturerbe-Objekte
    betroffen, also Orte, die seit sehr langer Zeit bestehen. Dies lässt entweder auf die ausserordentliche
    Heftigkeit des Bebens und der Flutwelle schliessen und/oder weist darauf hin, dass der menschliche Einfluss
    Naturereignisse verstärkt.

Auch für die UNSECO sind Warnsysteme, Verhaltensmassnahmen und Vorsorgemassnahmen (z.B. Nutzungspläne, Konstruktionsvorschriften) von grosser Bedeutung.

Die UNESCO tönt es an: eines der grossen Ziele menschlichen Handelns muss es sein, dafür zu sorgen, dass
die Auswirkungen von Naturereignissen nicht durch menschliches Zutun verschlimmert werden. Einer dieser Einflussfaktoren ist der übermässige Ausstoss von Treibhausgasen wie beispielsweise CO2. Der menschgemachte Anstieg des Kohlendioxidgehaltes der Atmosphäre hat erhebliche Auswirkungen auf Ökosysteme auf dem Land und im Wasser – Systeme, die dazu beitragen können, die Menschen vor grossen existenzbedrohenden Naturvorgängen wie solche Erdbeben zu schützen.

Es ist alles daran zu setzen, dass der Ausstoss von Treibhausgasen drastisch reduziert wird – zum Beispiel dadurch, dass deutlich weniger Flugreisen, auch zu Ferienzwecken, unternommen werden!


Zur Vertiefung der Katastrophenbewältigungsmechanismen: Artikel von Wolf R. Deombrowsky, Katastrophenforschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität in Kiel: „Der Natur Schuld zu geben, ist bequem“, im Kulturteil des Tages-Anzeigers vom 30. Dezember 2004 (Suche im Archiv, kostenpflichtig!)

erste Fassung 30.12.2004


Spätere Ergänzungen:

10.1.2005 (Tagesanzeiger, Beitrag von Vandana Shiva, „Lehren aus der Tsunami-Flutwelle: Ignoranten im
Informationszeitalter“, Analysen, Seite 7 (für die Suche im kostenpflichtigen TAgesanzeiger-Archiv))

Zwei Lehren fürt Vandana Shiva an:

  • Die erste Lehre bezieht sich auf die Entwicklung der Küstenregionen. In den letzten Jahren, in einer Phase der entfesselten kapitalistischen Globalisierung, ist der Respekt vor der Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit der Ökosysteme der Meeresküsten dem wildwüchsigen Bau von Hotels und Urlaubsdörfern, von Garnelenfarmen und Raffinerien geopfet worden. Mangrovenwälder und Korallenriffe sind unbarmherzig zerstört
    worden und damit auch die schützenden Wälle gegen Stürme, Zyklone, Hurrikane und Tsunamis. … Diese Fakten zeigen, dass eine gesellschaftliche „Entwicklung“, die die ökologischen Grenzen und Umweltschutz missachtet, nur zu unabsehbaren Zerstörungen führehn kann.
  • Die Zweite Lektion: … Obwohl wir uns einbilden, in einem Zeitalter der Information und in einer Wissensgesellschaft zu leben, ist das Wissen über ein Seebeben der Stärke 8.9 nach der Richterskala vom US-amerikanischen „Geological Survey“ nicht kommunizierbar gewesen, um die angrenzenden Länder rechtzeitig zu warnen. Hingegen ist gesichert, dass an den Börsen der ganzen Welt auf kleinste Signale sofort, d.h. zeitgleich, reagiert werden kann. … Es ist klar geworden, dass wir in einem Zeitalter der Ignoranz, des Ausschlusses und der Isolierung leben. Die IT-Revolution hat sich entwickelt, um den Märkten zu dienen, ist aber an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigegangen.

Auch wenn der Tsunami durch ein natürliches Ereignis ausgelöst wird, zeigt sich immer mehr, dass die
schlimmen Folgen des Tsunami vom 26. Dezember 2004 zu einem erheblichen Teil menschgemacht sind – einerseits durch das menschliche Handeln in Küstenregionen, andererseits durch den alles andere als gerechten Umgang mit Informationen. Hier besteht erheblicher Korrektur- und Handlungsbedarf!