Hinterziehung, Betrug, Polanski

Die Schweiz hat sich entschieden, dass für SchweizerInnen weiterhin zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug unterschieden wird – für Menschen aus dem Ausland mit Bankkonto in der Schweiz wird dieser Unterschied nicht mehr gemacht. Darum hat es die Schweiz geschafft, ab der grauen OECD-Liste zu kommen. Diese neue Praxis wendet die Schweiz offenbar auch in anderen Bereichen an: ohne Rücksicht auf irgendwelche Randbedingungen werden selbst unsinnige Haftbefehle, die beispielsweise von der USA ausgestellt wurden, vollzogen, ohne Rücksicht darauf, wie Menschen in der Schweiz in gleichartigen Situationen behandelt würden. Am Abend des 26. Septembers 2009 traf es in Zürich-Kloten einen Prominenten: Roman Polanski.

Vorerst: dass sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen zu den schwierigsten Vergehen gehören, darüber besteht Einigkeit. Erst seit dem November 2008 besteht in der Schweiz ein Verfassungsartikel, der die Unverjährbarkeit solcher Taten vor der Pubertät festsetzt. Da die präzisierenden Bestimmungen – und diese sind aufgrund der mehr als unklaren Begriffe im Verfassungsartikel zwingend erforderlich – noch nicht erstellt wurden, kann der Verfassungsartikel auch nicht zur Anwendung kommen.

Was genau sich Roman Polanski hat zuschulden kommen lassen, wird sich nie mit absoluter Genauigkeit ergründen lassen – daran ist einerseits die nicht wirklich unabhängige amerikanische Justiz schuldig, die sich erfahrungsgemäss durch die öffentliche Meinung leicht beeinflussen lässt, andererseits Roman Polanski, welcher sich nach einem Meinungswechsel beim verfahrensführenden Richter, welcher ihm, so ist es zumindest in den Medien zu finden, unverhofft eine Strafdauer von 50 Jahren und mehr in Aussicht stellte, zur Flucht aus den USA entschloss, beteiligt. Das damalige Opfer von Roman Polanski, Samantha Gailey, unterdessen Samantha Geimer, Mutter von drei Kindern, hat ihm öffentlich verziehen, hat Polanskis Eingeständnis, dass es ihm leid tue, akzeptiert – dies 31 Jahre nach dem Vorfall.

Die Oeffentlichkeit hat den Anspruch, dass Taten, die gegen das Gesetz verstossen (und bekannt werden) auch bestraft werden. Die Strafe umfasst mehrere Elemente: die Tat soll empfindlich gebüsst werden, eine Wiederholung der Tat soll verhindert werden, das Opfer soll Genugtuung erhalten, und gleichzeitig sollen potentielle TäterInnen zur Kenntnis nehmen, dass es sich nicht lohnt, eine solche Tat zu begehen (Generalprävention). Aus anderen Rechtssystemen ist noch das Prinzip „Aug um Aug“, also gleiches mit gleichem vergelten, simple Rache, bekannt – moderne Rechtssysteme nehmen davon Abstand. Als strengste Strafe gilt – ausser in Ländern mit der mehr als fragwürdigen Todesstrafe – das Strafmass „lebenslänglich“. Mindestens 10 bis 15 Jahre mit Begnadigungsrecht gilt in etwa in der Schweiz (daneben gibt es Verwahrungsmöglichkeiten) – „bis zum Tod“ heisst dies in den USA, was dann auch zu absurden Strafmassen von 100 und mehr Jahren führt. Hier kommt stark der Gedanke an Rache zum Vorschein.

Wenn man den Berichten in der Oeffentlichkeit glaubt, hat Roman Polanski seither ein unauffälliges Leben geführt, hat die Welt auch reich mit seinen Filmen beschenkt. Und jetzt wird es heikel: Zwar haben diese Filme ihn noch berühmter gemacht, haben ihm auch Auszeichnungen wie Oscar und César eingebracht; er gilt somit als verdientes Mitglied der Gesellschaft, im Wissen um die im strafrechtlichen Sinn ungesühnte Tat. Entscheidend dürfen nicht die Bekanntheit, die grossen Werke sein, sondern die Tatsache, dass die seinerzeitige Tat und die damit verbundenen Folgen offenbar einen Lernprozess bei Roman Polanski in Gang gesetzt haben – oder anders: die „erzieherische Wirkung“ der Strafe hat offenbar stattgefunden. Dass Roman Polanski nicht mehr uneingeschränkte Freiheiten genoss – aus Angst vor der drohenden Verhaftung konnte er etwa den Oscar nicht persönlich im Empfang nehmen, hat zumindest strafähnlichen Charakter – auch wenn dies offenbar juristisch nicht relevant ist: das damalige Opfer Samantha Geimer will als erwachsene Person die Vergangenheit ruhen lassen, hat kein Interesse an einer Verurteilung des damaligen Täters. Auch dies ist heikel: da die Zeit häufig Wunden heilt, ist es schwierig, aus der zeitlichen Distanz die Folgen der Tat abzumildern.

Gnade, vielleicht auch Moral oder Durchsetzung des Rechts: darum geht es letztlich – es geht nicht um die Frage, ob der „ältere“ Polanski in Freiheit der Menschheit nochmals beeindruckende preiswürdige Bilder schenken (oder eher verkaufen 😉 ) würde, es geht nicht um die Frage, wer denn Nutzen trägt von einem inhaftierten Roman Polanski, der irgendwann in einigen Jahren tot aus seiner Gefängniszelle getragen würde.

Ich bin ehrlich: ich weiss nicht, wie ich entscheiden würde – rational wahrscheinlich eher juristisch, emotional eher für die Gnade.


Nachtrag 1.10.09

Da könnten – ganz im Sinne dieser Ausführungen – auch Argumente zusammenkommen, die auch die rationale respektive juristische Ebene betreffen: Hans Giger, emeritierter Rechts-Professor, hat dies am 1.10.09 unter dem Titel Verkannte Rechtslage im Fall Polanski dargelegt.

Erste Fassung 28.9.09