Menschen statt uralte Buchstaben ins Zentrum stellen

Wenn sich zölibatär lebende Bischöfe zur Ehe zu Wort melden, ist das Unverständnis sowohl der Kirchenmitglieder als auch der Gesellschaft vorprogrammiert. Die katholische Kirche beruft sich auf die Bibel, überlieferte Worte aus einer historischen Vorzeit. Diese Bibel enthält wertvolle, ewige Weisheiten zu gesellschaftlichen, zu ethischen Fragestellungen – aber auch Aussagen, die sich nur aus dem damaligen Kontext ergeben. Gerade das Zusammenleben der Menschen – dazu gehört auch die Ehe – hat sich in den letzten 2000 Jahren erheblich verändert werden.

Wenn sich die Bibel, Worte von Jesus zitierend, zur Ehe und insbesondere zu den Folgen des „Ausstiegs“ aus der Ehe äussert, ist zwingend der soziale Kontext miteinzubeziehen, es geht um erbrechtliche Fragen, um diese Aussagen nachvollziehen zu können. Denn die Regelung der diversen Aspekte von Partnerschaften betrifft auch heute noch sehr viele sozialpolitische Aspekte. Die Aufgabenzuordnungen in einer Partnerschaft erfordern unabhängig vom Rollenverständlich insbesondere klare Regelungen im Bezug auf Einkommen und Vermögen der an der Partnerschaft beteiligten. Zu biblischen Zeiten regelte die Religion neben vielen weiteren Lebensaspekten somit auch die Wirkungen der Ehe. Zu beachten ist zudem, dass Kinder- und Frauensterblichkeit, parallel zur Lebenserwartung, eine ganz andere Ausgangslage zur Folge hatte.

Selbstverständlich ist anzustreben, dass Partnerschaften möglichst lange andauern – stabile Beziehungsverhältnisse entsprechen einem menschlichen Bedürfnis. Das Auseinandergehen von Partnerschaften, egal ob als formelle Ehe oder in anderer Form, ist für alle Beteiligten ein schwieriger Lebensabschnitt. Selbst in der so wohlhabenden Schweiz ist das Ende von Beziehungen in vielen Fällen nach wie vor ein harter Schnitt. Aber: seit den Zeiten der Bibel hat sich einiges geändert, Demokratie, eine deutlich grössere Bedeutung der Zivilgesellschaft, der Einfluss der Aufklärung. Die Regelung der sozialen Aspekte einer Partnerschaft – und die Folgen der Auflösung einer Partnerschaft – ist durch sogenannt „bürgerliche“ Gesetze abgelöst worden. Zu beachten ist auch: die Wohlhabenheit der Schweiz lässt hier andere Überlegungen zu als die Verhältnisse in armen Gegenden. Scheidung ist auch ein Wohlstandsaspekt!

Ich gehe davon aus, dass dies auch Bischof Huonder bewusst ist. Diverse Aussagen sowohl von ihm wie von anderen Leitungspersonen der Kirche weisen darauf hin, dass es nicht wirklich um die Scheidung geht, sondern um den Versuch, aus den Staatskirchen Bekenntniskirchen zu machen. Den kirchlichen Obrigkeiten sind die demokratisch aufgebauten, staatlich legitimierten staatskirchenrechtlichen Institutionen nicht geheuer, weil sich hier Laien unbekannter Gläubigkeit erfrechen, die vermeintlich gottgegebenen innerkirchlichen Hierarchiestrukturen inklusive Unfehlbarkeitsdogma in Frage zu stellen. Wenn Bischof Huonder potentiell die Hälfte der je Verheirateten (entsprechend der Scheidungsquote) geradezu aus der Kirche wirft, in dem er ihnen eines der zentralen Sakramente verweigert, verkleinert er aktiv die potentiellen Mitgliederzahlen und damit die Finanzkraft der staatskirchenrechtlichen Institutionen; zudem verärgert er die nicht betroffenen Mitglieder – wenn sich die Kirche noch weiter vom realen Leben entfernt, werden auch diese irgendwann den Austritt aus der Kirche vornehmen. Da der Bischof und sein Hofstatt auf der andern Seite von „ewigen“ Finanzquellen“ lebt, kräftig er dadurch seine eigene Position.

Die Kirchen vertreten in vielen Fragen des täglichen Lebens wichtige ethisch begründete Positionen, die einer Zivilgesellschaft eine gewisse Orientierung ermöglichen. Rein zivilgesellschaftlich strukturierte Ethikstimmen mit dem notwendigen Gewicht und der erforderlichen Akzeptanz sind nur in minimalen Teilbereichen bekannt. Ausschliesslich autonome Ethiken sind dem gesellschaftlichen Grundkonsens nicht zuträglich. Letztlich geht es darum, ob den Kirchen weiterhin gesellschaftspolitische Relevanz zugebilligt wird – dann besteht die Erfordernis von staatskirchenrechtlichen Vorgaben – oder ob die bisherigen Staatskirchen sich Richtung Sektentum entwickeln – dann wäre die staatskirchenrechtliche Form nicht mehr akzeptabel. Im Moment ist offensichtlich, dass Bischof Huonder die katholische Kirche im Bistum Chur Richtung Sekte steuern möchte – während die KritikerInnen der bischöflichen Position die staatskirchenrechtliche Bedeutung erhalten wollen.

Interessenbindung: Ich bin Synodal – Mitglied des Parlaments der (staatskirchenrechtlichen) römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich.