Internet und Meinungsbildung

Auf vielen Internet-Seiten finden sich Meinungsumfragen, einige davon gar abstimmungsartig dargestellt (z.B. mit Hinweisen wie „voting“, „jetzt abstimmen“ oder dergleichen).

Derartige Seiten haben allerdings bestenfalls Unterhaltungswert, weil mit den meisten heute zur Verfügung stehenden Internet-Techniken wesentliche Elemente von Meinungsumfragen oder gar Abstimmungen nicht einbezogen werden können, z.B. Repräsentanz, Anonymität, der Grundsatz „Eine Person, eine Stimme“.

Einige sogenannte Umfragen sind (absichtlich?) so konzipiert, dass mit sehr geringem Aufwand eine mehrfache Teilnahme möglich ist. Beispiele dafür sind die „Abstimmungen“, die von Sonntagsblick, Tages-Anzeiger und FACTS angeboten werden (Stand Mitte Dezember 2002). Die „Kontrolle“ über die Abstimmungsteilnahme wird mittels sogenannten „Cookies“ vorgenommen, kleinen Texten, die vom Server-Programm auf dem Computer der Besucherin oder des Besuchers gespeichert werden. Nach dem Löschen der „Cookies“ kann nochmals abgestimmt werden, und so weiter und so fort (siehe unten).

Schlicht und einfach: Cookies sind kein taugliches Instrument zur Kontrolle der Teilnahme an Umfragen oder Abstimmungen – Cookies befinden sich ausschliesslich im Einflussbereich der Computerbenutzerin und des Computerbenutzers. Verantwortungsvolle ComputerbenutzerInnen bewirtschaften die Cookies aktiv und löschen regelmässig unbenötigte Cookies – verschiedene Sicherheitsempfehlungen schlagen gar vor, Cookies bei jedem Verlassen des Browser-Programms zu löschen.

Selbstverständlich lässt sich das Internet sogar für reale demokratische Abstimmungen nutzen – in der Schweiz allerdings während Jahren erst in Pilotversuchen (siehe E-Voting-Seiten des Bundes).

Eine der Absichten der diversen „Abstimmungen“ und „Umfragen“ im Internet ist sicher die Beeinflussung der Meinungsbildung – wenn derartige Foren sehr einfach manipuliert werden können, handelt es sich bei der Veröffentlichung solcher Ergebnisse um höchst problematische Einflussnahmen. Die Oeffentlichkeit hat das Recht, über die Hintergründe solcher Pseudo-„Abstimmungen“ und -„Umfragen“ informiert zu werden, um deren Stellenwert einschätzen zu können: bestenfalls Unterhaltungswert, auf jeden Fall Verschwendung von Speicher- und Datentransfer-Volumen!

Allerdings: Warum bieten ausgerechnet Medien, oft als die vierte Staatsgewalt bezeichnet, derart penible Pseudo-„Abstimmungen“ oder -„Umfragen“ an? Offenbar sind sich die Medien daran gewöhnt, dass ihre Inhalte manipuliert werden. Oder es ist vielleicht ganz einfach so, dass die Medien gar nicht an der tatsächlichen Meinung ihrer Leserinnnen und Leser interessiert sind? Halten die Medien derart wenig von demokratischen Instrumenten, dass sie diese mit einfach manipulierbaren Spielzeugen lächerlich machen wollen?

Es gibt nur eine Lösung: solche Pseudo-„Abstimmungen“ haben aus dem Internet zu verschwinden – solange, bis Verfahren gefunden werden, die sowohl die Representativität als auch das Wahl- und Abstimmungsgeheimnis respektieren.


Wie der Tages-Anzeiger darauf reagiert, dass seine „Abstimmungs“- und „Umfrage“-Seiten derart einfach manipuliert werden können:

Am Morgen des 23. Dezembers 2002 war bei einer der Resultatseiten zu lesen:

FdT [Frage des Tages] wird manipuliert
Leider mussten wir am Wochenende und auch heute Montag feststellen, dass die Frage des Tages von aussen manipuliert wird. Eine Antwortoption wird vom gleichen User, indem die technische Beschränkung umgangen wird, mehrere hundert mal gewählt. Wir arbeiten daran, dies in Zukunft verhindern zu können.

Hinweis: es ist eine ziemliche Frechheit, wenn der Tages-Anzeiger schreibt, es müssten „technische Beschränkungen“ umgangen werden. Das Anbringen von Cookies auf einem fremden Computer ist kaum eine technische Beschränkung!

Am Abend des gleichen Tages wurde der Zusatz angefügt „…und bitten den Urheber, sein Tun zu unterlassen.“

Kurz darauf gab es eine neue „Frage des Tages“, ohne irgendwelche Hinweise auf die Manipulierbarkeit.
Die gestellte Frage: Tradition im Wohnzimmer: Was für ein Weihnachtsbaum steht bei Ihnen zu Hause? mit den Antwortmöglichkeiten echte Tanne, künstlicher Baum oder gar kein Baum. Am Abend des 24. Dezember lautete der Zwischenstand rund 70 % für die Antwort „echter Baum“, obwohl im begleitenden Artikel die Aussage steht: In jedem dritten der rund drei Millionen Schweizer Haushalte steht ein Christbaum, wie der landwirtschaftliche Informationsdienst mitteilte.

Ist jetzt dies ein Einfluss der Einflussnahme von aussen, die fehlende Repräsentativität?

Bei derartigen Fragen ist das Ergebnis ohne jede Belang. Wenn es (wie in den Tagen vorher) um Fragen wie Ladenöffnungszeiten, Pfandgebühren für Flaschen oder um Strassenbauvorhaben in der Stadt Zürich geht, wird offensichtlich, dass der Tages-Anzeiger mit solchen Pseudo-„Abstimmungen“ versucht, politische Einflussnahme zu üben. Ebenso bei Facts, wenn es um die Einschätzung des Eizenstats-Buches geht, oder bei 20 Minuten, bei der die Haltung zum „Gewehr im Schrank zu Hause“ erfragt wurde, oder beim Beobachter, bei dem es um die Höhe der Lebensmittelpreise bei den Grossverteilern oder die Beurteilung des Dienstleistungsangebotes der Post geht.

Deshalb die Forderungen:

  1. die Medien haben auf die technische Unzulänglichkeit ihrer Pseudo-„Umfragen“- und -„Abstimmungs“-Seiten hinzuweisen.
  2. am besten wird auf derartige irreführende Angebote verzichtet, insbesondere, wenn die Frage Themen betrifft, die der demokratischen Entscheidfindung unterstehen! Abstimmungen, Umfragen und dergleichen gehören in die Hände von Profis, gehören unter strikte demokratische Kontrolle.
    Ist diese Forderung ein Eingriff in die redaktionelle Freiheit der Publizierenden von Internet-Angeboten? Für die Publikation von Umfragen gelten Richtlinien zur „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ des Schweizerischen Pressrates; in Punkt 3.7 der Richtlinie wird zum Thema Meinungsumfragen ausgeführt: „Bei der Veröffentlichung von Meinungsumfragen sollten die Medien dem Publikum immer alle Informationen zugänglich machen, die für das Verständnis der Umfrage nützlich sind: Mindestens Zahl der befragten Personen, Repräsentativität, mögliche Fehlerquote, Erhebungsgebiet, Zeitraum der Befragung, Auftraggeberin / Auftraggeber. Aus dem Text sollten auch die konkreten Fragen inhaltlich korrekt hervorgehen.“ Es ist offensichtlich, dass verschiedene dieser Angaben bei derartigen „Umfragen“ gar nicht möglich sind. Umfragen im Internet haben somit reinen Unterhaltungswert – dies haben die MacherInnen solcher Umfragen bei der Fragenauswahl zu berücksichtigen. Die Forderung nach dem Verzicht auf Pseudo-„Umfragen“, die sich auf politische Entscheidungsprozesse beziehen, berührt die Redaktionsfreiheit in keiner Art und Weise.

Unterdessen fügt der Tages-Anzeiger – leider erst bei der Resultatseite – den Zusatz an: Diese Umfrage ist nicht repräsentativ.


Anleitung zur mehrfachen Teilnahme bei ausschliesslich mit Cookies kontrollierten „Abstimmungen“

  • Für Internet Explorer unter Windows-Betriebssystemen:
    1. Browser starten.
    2. „Abstimmungsseite“ aufrufen.
    3. An der Abstimmung teilnehmen.
    4. Browser beenden
    5. Im Explorer die neuesten Cookies löschen (im Ordner „Cookies“ des Benutzers/der Benutzerin)
    6. wieder bei 1. beginnen
  • Für Netscape-Browser unter Mac OS X oder unter Windows:
    1. Browser starten.
    2. „Abstimmungsseite“ aufrufen.
    3. An der Abstimmung teilnehmen.
    4. Im Browser unter „Einstellungen“, „Security“, „Cookies“ öffnen
    5. Mit der Cookies-Verwaltung die neuesten Cookies löschen, Aenderungen bestätigen
    6. bei 2. weitermachen

Im übrigen: dieser Vorgang kann sogar automatisiert werden, unter Windows beispielsweise mit dem Programm Smart Macro – in einer halbenStunde lassen sich so einige Hundert Seitenaufrufe realisieren.


Andere Versuche von „Abstimmungen“ und „Umfragen“

Andere Medien wie z.B. der Beobachter machen den Versuch, ihre Pseudo-„Abstimmungen“ und -„Umfragen“ zu sichern, indem die IP-Adresse des Computers gespeichert wird.

Wer beim Beobachter versucht, ein weiteres Mal an der Abstimmung teilzunehmen, bekommt die Meldung Von Ihrem Computer wurde bereits vor kurzen Abgestimmt! (Orginalzitat).

Das heisst: eine zweite Person, die am gleichen Computer arbeitet, ist von der Teilnahme an der „Abstimmung“ ausgeschlossen.

Ist eine derartige Abstimmung vor Manipulationen gesichert? Nein! Mit Internet-Angeboten wie Anomyzern kann auch diese „Barriere“ umgangen werden.

Das Fazit: Es gibt gibt anhin keine Methode, im Internet Abstimmungen oder Umfragen durchzuführen, die minimalsten demokratischen Anforderungen genügen!