Zahlengespenster und Gerüchte

Die mehr als 25 Jahre verzögerten Schritte zum möglichst raschen Verzicht auf die Atomenergie und die endlich erfolgenden, wenn auch sehr zögerlichen Schritte zu „Ausstieg“ aus der Atomenergie rufen auch all die BedenkenträgerInnen auf den Plan, die mit Zahlengespenstern und unbewiesenen Behauptungen die öffentliche Meinung manipulieren wollen. Einmal mehr ist festzuhalten: der übermässig grosse ökologische Fussabdruck zeigt sich auch an der Entwicklung des Energieverbrauchs, und einmal mehr ist festzuhalten: die Energiepreise lügen. Daraus aber Zahlengespenster und Unwahrheiten zu konstruieren, ist Schindluderei! Klar ist: die nach-fossile und nach-nukleare Energieversorgung beginnt heute!

Climate Criminals wie TCS, HEV und economiesuisse betreiben anstelle von Interessenvertretung Obstruktionspolitik, um mehr Streicheleinheiten von der Oeffentlichkeit und der Politik zu erhalten. Dass diese Verbände nicht den Tatsachen verpflichtet sind, ist daher nachvollziehbar – da es daneben Organisationen wie den VCS, den Hausverein und Swiss Cleantech gibt, die regelmässig geradezu konträre Positionen vertreten, können derartige Positionsbezüge eingeordnet werden.

Medien und Wissenschaft sind in solchen Situationen wesentlich stärker gefordert – wenn etwa der Tages-Anzeiger eine halbe Woche vor dem Bundesratsentscheid über die zukünftige Atomenergiepolitik dem früheren BFE-Chef Eduard Kiener, einem bekennenden Nuklear-Fan, fast eine ganze Seite für dessen nicht-energiepolitischen Positionsbezug zur Verfügung stellt, ist dies eine sehr heikle Angelegenheit.

Die eigenartige Position der ETH-DARCH-ProfessorInnen zu Klimaschutz mit der Zero-Emission Architecture braucht hier keine weitere Erörterung. In einem Tages-Anzeiger-Interview reiht sich auch ETH-Professor Lino Guzzella in die Reihe der BedenkenträgerInnen ein – grundsätzlich sind fundierte Bedenken von grosser Bedeutung, allerdings sollten sie Substanz enthalten.

Vorerst: es ist einmal mehr festzuhalten: Auch wenn die Schweiz einen relativ grossen Atomstromanteil hat, macht die Atomenergie rund 10 % der Schweizerischen Energieversorgung aus! Zudem ist zu notieren, dass der Strompreis in der Schweiz im internationalen Vergleich und unter Berücksichtigung der Kaufkraft sehr günstig ist. Dies hat zum einen mit der Position der Wasserkraft zu tun – der europaweit vernetzte Spitzenzeiten-Stromhandel trägt wesentliches zur relativen Verbilligung des Strompreises bei, zudem ist der Grossteil dieser Anlagen von früheren Generationen erstellt worden und darum im wesentlichen bereits amortisiert. Wer sich äussert zu den Kosten einer Stromversorgung, die ausschliesslich auf erneuerbaren Energien aufbaut, muss sich gleichzeitig ebenfalls äussern zu den Kosten einer Weiterführung der bisherigen Stromversorgung mit dem hohem Atomstromanteil – inklusive den Rückbau-, Versicherungs- und den Kosten für die langdauernde Lagerung des Atommülls. Als ein Beispiel: für Deutschland wurde errechnet, dass allein die Versicherungsprämien für Atomstrom den Kilowattstundenpreis um mindestens den Faktor 10 erhöhen würden!

Die Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien wurde bis anhin vor allem dadurch behindert, dass in der Schweiz die Grossen der Elektrizitätsbranche in erster Linie auf neue Atomkraftwerke gesetzt haben. Erneuerbare Energien waren bis jetzt geduldet, mehr nicht – die absurde kostendeckende Einspeisevergütung für erneuerbaren Strom illustriert das treffend. Da gibt es nur eine Lösung: wer auf dem Schweizer Markt Strom anbieten will, muss einen laufend steigenden Anteil zwingend aus erneuerbaren Energien anbieten, bis spätestens 2025 100 Prozent Strom aus erneuerbaren Quellen auf dem Markt ist. Dies heisst: man kann ab sofort auf Förderbeiträge für Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen verzichten.

Zurück zum TA-Interview mit ETH-Professor Lino Guzzella. Dies beginnt mit der nachweislichen falschen Behauptung „Wenn ich die Energiestatistik anschaue, stelle ich fest, dass wir bis 1950 rund zehnmal weniger Energie verbraucht haben als heute. Und die Menschen haben damals ja auch glücklich gelebt.„. Auch wenn ich durchaus auch der Ansicht bin, dass der Energieverbrauch der Schweiz deutlich zu hoch ist, dieser Faktor 10 lässt sich durch gar nichts belegen, weder absolut noch pro einwohnende Person. Auf der Basis der Energiestatistik-Zeitreihe von www.energiestatistik.ch habe ich in der nachfolgenden Tabelle die Verbrauchs-Zunahme-Faktoren dargestellt:

Energiebereich Faktor Verbrauchszunahme zwischen 1950 und 2009, absolut, ganze Schweiz Faktor Verbrauchszunahme zwischen 1950 und 2009, pro Person, ganze Schweiz
Fossile Brennstoffe 3.30 1.99
Erneuerbare (Wärme) 2.95 1.78
Fossile Treibstoffe 15.37 9.29
Elektrizität 6.51 3.94
Gesamt 5.23 3.16

Herr Guzzella liegt also absolut um einen Faktor 2 zu hoch, pro Person sogar um einen Faktor 3 – einzig bei den fossilen Treibstoffen (Stichwort Climate Criminals TCS) könnteseine Aussage zutreffen. Das heisst: die Leserin, der Leser dieses Artikels muss also davon ausgehen, dass auch die anderen Aussagen von Herr Guzzella um den Faktor 2 bis 3 daneben liegen.

Herr Guzzella prägt zudem ein völlig falsches Bild von Verzicht – auch er müsste unterdessen realisiert haben, dass es um freiwillige Einfachheit geht. Bei den Beispielen mischt er dauernd zwischen den verschiedenen Energien: wer über den Atomausstieg spricht, müsste auch vor allem Beispiele aus dem Strombereich nennen. „18 °C Raumtemperatur und ein Pullover“ wäre allenfalls dann relevant, wenn es um direktelektrisch oder mit einer Wärmepumpe beheizte Gebäude geht. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: bis zum vom Bundesrat anvisierten Ausstiegsdatum müssen eine grosse Zahl von Bauten erneuert werden, mit der Möglichkeit, die energetische Qualität deutlich zu verbessern. Wegen des Rebound-Effekts („dieses Gebäude ist derart effizient, da können wir uns T-Shirts im Winter leisten„) ist zwar festzustellen, dass etwa in Minergie-Bauten deutlich zu hohe Raumtemperaturen mit entsprechendem Minderkomfort anzutreffen sind – dies lässt sich aber mit relativ einfachen Mitteln korrigieren. Nachweislich gehen zudem die Mehrkosten etwa bei Mietwohnungen kaum auf die Verbesserung der energetischen Qualität zurück, sondern immer noch auf die pro Person nach wie vor zunehmende Wohnfläche – und bei einer Stabilisierung und anschliessender Abnahme des Flächenanspruchs pro Person kann kaum von Verzicht gesprochen werden.

Richtig eingesetzte Computer können den gesamten Energieverbrauch deutlich vermindern – das papierreduzierte Büro etwa als Ansatz (wenn die Menschen lernen müssen, dass nicht die Haptik eines Buches oder eines Berichtsentwurfes das Leseerlebnis bestimmt, kann auch dies nicht als Verzicht bezeichnet werden, sondern bestenfalls als Abschied von liebgewordenen Gewohnheiten).

Um ein weiteres Beispiel anzufügen: Klassische elektrische Tumbler sind tatsächlich Energieschleudern – mit wärmepumpengetriebenen Raumluftentfeuchtern kann Wäsche um Faktoren effizienter getrocknet werden. Selbstverständlich ist wie von Herrn Guzzella prognostiziert Wäsche trocknen an der Sonne noch energieeffizienter, allerdings nicht in allen Jahreszeiten möglich. Einmal mehr: die Energiezukunft ist geprägt von Energieeffizienz und freiwilliger Einfachheit – die Energiezukunft ist nicht ein Schritt in die Steinzeit, sondern ein kräftiger Schritt vorwärts in die Zukunft!

Ich habe bereits darauf hingewiesen: die Differenzkosten des längerfristigen Verzichts auf Atomstrom im Vergleich zur Weiterführung der Atomenergiepolitik sind kaum bezifferbar – in Deutschland gibt es diverse Studien, die voraussagen, dass erneuerbare Energien auf Dauer sogar billiger zu stehen kommen als die Atomenergie! Das Wuppertal Institut hat eine Studie dazu erstellt; die Medienmitteilung dazu hält fest: Geringe Strompreiseffekte bei einem beschleunigten Atomausstieg! Zu beachten ist zudem: das erhebliche Effizienzpotential lässt den Stromverbrauch schrumpfen, was zu reduzierten Stromkosten führt.

Einmal mehr ist festzuhalten: die zukünftige Energieversorgung wird auf tieferem Verbrauchsniveau einen höheren Stromanteil aufweisen – es gibt genügend Studien, die nachweisen, dass dies mit vertretbaren Kosten möglich ist – siehe dazu ein Szenario.

Hoch spekulativ ist die Aussage von Herrn Guzzella, mit Fukushima sei auch die „Vision Elektroauto gestorben“ (abgesehen von der sprachlich fragwürdigen Formulierung). Die Energie-Effizienzvorteile eines Elektroautos sind dermassen gross, dass gerade im Nah- und Mittelstreckenbereich unter einer gesamtheitlichen energie- und klimaschutzpolitischen Betrachtung Elektrofahrzeuge nach wie vor Vorteile aufzuweisen haben – im Wissen darum, dass gerade in der Schweiz ein beträchtlicher Teil des öffentlichen Verkehrs bereits heute energieeffizienter elektrischer Verkehr ist! In meinem Energie-Zukunfts-Szenario erfolg deshalb eine kräftige Verlagerung auf den öffentlichen Verkehr.

Die Umweltorganisationen haben abgeschätzt, dass – auch hier ohne Vergleichskosten der Atomstromentwicklung – bis 2035 maximal 100 Mia Franken erforderlich sind für die Umstellung des Stromversorgungssystem auf nuklearfreie Energien. Dies würde pro Jahr rund 4 Mia Franken, etwa 0.7 % des BIP, ausmachen. Pro mittleren CH-Haushalt – alle Haushalte zusammen verbrauchen etwas mehr als 30 % des Stroms – macht dies jährlich rund 400 Franken, etwas mehr als 30 Franken pro Monat, aus. Wie bereits gesagt: auch hier fehlt die Entwicklung des Strompreises bei einer Weiterführung der Atomstrompolitik. Herr Guzzella nennt in seinem Artikel jährliche Zusatzkosten von 2000 Franken pro Haushalt, also schon wieder ein Faktor 5 daneben! Dies hat einerseits damit zu tun, dass ich meine Aussagen für einen Durchschnittshaushalt mache – gemäss Statistik wohnen in einem solchen Durchschnittshaushalt 2.29 Personen – da wäre also Herr Guzzella nur noch um Faktor 3 daneben. Die Berechnungsweise von Herrn Guzzella lastet zudem sämtliche Strompreiserhöhungen den Haushalten an, also auch den Anteil der Wirtschaft, welcher aber fast 70 % ausmacht. Selbstverständlich steckt dieser Preis in den Inland-Produkten, zu beachten ist aber, dass ein beachtlicher Teil der Güter und Dienstleistungen exportiert wird, also bereits heute die Haushalte auch indirekt via Produktepreis nicht belastet. Bei viel gutem Willen kann man also die Faktorunterschiede in der Argumentation von Herrn Guzzella einigermassen erklären, im Wissen darum, dass es sich um Taschenspielertricks handelt, um die Ausstiegskosten künstlich aufzublähen. Auch hier wieder geht vergessen, dass auch die Wirtschaft erhebliches Stromeffizienzpotential hat – höhere Stromkosten tragen erfahrungsgemäss dazu bei, dieses Potential auch tatsächlich auszuschöpfen (selbst wenn die sogenannte Preiselastizität den Effizienzeffekt einer Strompreiserhöhung abschwächt, dies trifft allerdings deutlich stärker auf die Haushalte als auf die Wirtschaft zu. Zentral bei den Ergebnissen dieser von economiesuisse mitfinanzierten Studie: wichtig ist die Langfristigkeit der Preissignale!).

Letztlich heisst dies also: es gibt keine wirklichen Gründe gegen den Ausstieg aus der Atomenergie – die Politik soll endlich entscheiden, dann können sich Gesellschaft und Wirtschaft auf die politisch angestrebte Entwicklung einstellen. Kontraproduktiv sind Nicht-Entscheide, weil damit keine klaren Signale verbunden sind.