Wirklich kein Neuland?

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist dem Gespött der „Internet-Twitter-Generation“ ausgesetzt – wegen ihrer Aussage „Das Internet ist für uns alle Neuland“ an einer Medienkonferenz mit US-Präsident Barack Obama. Sie nahm dabei Bezug auf die öffentliche Empörung über das US-Spähprogramms Prism seit den Enthüllungen von Edward Snowden.

Ganz einfach: wer bei derartigen Fragen erst jetzt empört reagiert, für den oder die ist das Internet tatsächlich Neuland.

Der Schwede Stieg Larsson hat vor 2004 die ersten drei Teile der „Millenium“-Krimi-Roman-Reihe mit den Hauptfiguren Mikael Blomkvist, einem investigativen Journalisten, und Lisbeth Salander, einer herausragenden Rechercheurin und begabten Hackerin, geschrieben. Was in diesen drei Büchern von Lisbeth Salander alles gehackt wird und wie dies funktioniert, ist entweder eine Vorwegnahme der heutigem Realitäten (jeder denkbare Gedanken hat das Potenzial, Realität zu werden) oder beschreibt, was schon damals Realität war. Im Sinne einer Wiederholung: geheim kann nur bleiben, was ausschliesslich im Gehirn eines Menschen „gespeichert“ ist, Vertraulichkeit ist höchstens mit zwei Beteiligten möglich (weil jede Person immer genau weiss, dass sie es war oder eben nicht, die das Geheimnis verraten hat). Bei mehr als zwei Beteiligten ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das gemeinsame Wissen öffentlich ist. Sobald Informationen auf einem Computer verfügbar sind, auf jeden Fall per E-Mail, gibt es allein durch die Anzahl der Netzwerknoten auf dem Weg der Datenpakete – siehe z.B. Wikipedia-Stichwort Traceroute – immer mehr als zwei Beteiligte, und damit ist Geheimhaltung und Vertraulichkeit aus prinzipiellen Gründen nicht oder kaum möglich. Komplexe Passworte vermögen zwar die Vertraulichkeit zu erhöhen, aber nicht zu garantieren.

Die zwar berechtigte, aber trotzdem nutzlose Empörung dürfte vor allem darum entstanden sein, dass wieder einmal öffentlich bekannt wurde, was viele wissen, aber nicht zu denken wagen: die Informationsgesellschaft ist darauf ausgelegt, Informationen aller Art auszutauschen und nicht, um diese Informationen geheim oder vertraulich zu halten! Dabei ist etwa für Geheimdienste nicht unbedingt der Inhalt eines Mails von Bedeutung, sondern das Netzwerk, welches durch SenderInnen und EmpfängerInnen von Nachrichten aufgespannt wird, zusammen mit dem Umfeld von häufigen oder ausgewählten Stichworten. Seit vielleicht 15 Jahren wird das Internet von ständig zunehmender Bedeutung für Einzelpersonen, Gesellschaft und Wirtschaft – im Jahr 2012 gelten in der (reichen) Schweiz „nur“ 80 Prozent der Bevölkerung als „engerer NutzerInnenkreis des Internets„! Das heisst: selbst in reichen Ländern nutzen nicht alle Menschen das Internet. Relevante Anteile der Gesellschaft nutzen das Internet auch erst seit höchstens 10 Jahren. Auch wenn es sicher einiges an Know-how gibt über die Möglichkeiten und Grenzen des Internets: das Internet hat noch nicht den Status „selbstverständlicher gesellschaftlicher Bezug“ erreicht – oder eben: das Internet ist tatsächlich immer noch Neuland. Dies ist allerdings auch eine Chance, gewisse Dinge zu regeln, etwa den Einsatz von Spähprogrammen wie Prism.

Ein weiterer Skandal ist, dass trotz offensichtlichen Möglichkeiten des Internets für Spähprogramme das Wissen um diese Spähprogramme geheim bleiben sollte (was – siehe oben! – schlicht nicht möglich ist), und dass die USA Edward Snowden belangen wollen (Hinweis: Bankdatenklau ist und bleibt kriminell, auch wenn dies von deutschen Hehler-Bundesländern unterstützt wird). Herr Snowden publiziert nicht Daten, sondern erzählt der interessierten Öffentlichkeit, welche Daten z.B. von den USA gesammelt werden. Mit der beabsichtigten Anklage bestätigen die USA allerdings ihr Gauner-Image.