Sensation? Überraschung? – Nicht wirklich!

Die Stadt Zürich hat bei einer (unsinnigen) Einervakanz in einem zweiten Wahlgang am 21. April 2013 einen neuen Stadtrat gewählt. Ist das Ergebnis – AL-Gemeinderat Richard Wolff wird mit etwas mehr als 1.2 % der Stimmen vor FDP-Kandidat Marco Camin gewählt – eine Überraschung, eine Sensation? Und ist dies ein Linksrutsch des Stadtrates? Nicht wirklich, meine ich!

Dass ich diesen Wahlausgang nicht als Sensation oder Überraschung werte, hat nichts mit dem Ergebnis der Wahl zu tun: Herzliche Gratulation, Richi Wolff, und viel Spass in diesem Amt!

  • Majorzwahlen sind Persönlichkeitswahlen, und erst dann Parteiwahlen – wer die diversen Interviews, die Wahlwerbung und die persönlichen Aussagen angeschaut und angehört hat, kann nicht verwundert sein, dass letztlich der Kleinparteienvertreter Wolff knapp mehr Stimmen erzielt hat als der Vertreter der etwas grösseren FDP Camin.
  • Die Wählenden bevorzugen bei solchen Wahlen Herz statt Kopf. Im Hinblick auf die Gesamterneuerungswahlen 2014 des Stadtrates gäbe es eine Vielzahl von taktischen Überlegungen zu berücksichtigen – die Stimmfreigabe der SP war ein erstes Zeichen, dass diese taktischen Überlegungen nicht ausschlaggebend sind – eine knappe Mehrheit hat relative politische Nähe stärker gewichtet als komplizierte „Wenn-Dann-Szenarien“ für die nächsten Wahlen. Das ist gut so. Und im Übrigen: nach den Wahlen ist vor den Wahlen.
  • Die städtischen WählerInnen der Grünliberalen neigen eher Richtung Links als Richtung Rechts. Die Grünliberalen auf nationaler Ebene sehen sich eher im bürgerlichen Lager, entsprechend verlief die Auswahl des GLP-Kandidaten im 1. Wahlgang. In der Tendenz zeigt der Vergleich der Ergebnisse der beiden Wahlgänge, dass etwas mehr als 60 % der grünliberalen Stimmen zu Wolff und etwas weniger als 40 % zu Camin gewandert sind – Ausnahme ist dabei der Wohnort-Wahlkreis von Herrn Camin. Warum in Oerlikon/Kreis 11 Camin noch weniger überzeugte als in den anderen Stadtkreisen, hat sicher Gründe (die mir aber nicht bekannt sind).
  • Rund 82 % der Stimmberechtigten, die sich beim ersten Wahlgang beteiligten, waren auch beim 2. Wahlgang präsent (es müssen nicht die gleichen gewesen sein :-)). Die Wahlbeteiligung kann also keinen entscheidenden Einfluss gehabt haben. In der Tendenz gab es im Wahlkreis 4+5 eine etwas schwächere Abnahme der Wahlbeteiligung, im Gegensatz zum Stadtkreis 12, wo sich anteilmässig weniger WählerInnen als im Stadtmittel am 2. Wahlgang beteiligten.

In einer direkten Demokratie mit einer grossen Zahl von Sachentscheiden bleibt die letztliche Entscheidungsgewalt bei den Stimmberechtigten – ob z.B. eine Stadt „nach links“ wandert, entscheidet sich gerade in einem Konkordanzsystem nicht an der Parteizugehörigkeit der Exekutivmitglieder. sondern an den Sachentscheiden der Stimmberechtigten. Diese lassen sich für die Stadt Zürich eher weniger an der Links-rechts-Orientierung festmachen, sondern am Gestaltungswillen des Lebensraums Stadt und der Chancen der Stadtbewohnenden – in den Persönlichkeitswahlen, gerade bei Einervakanzen, werden jene Kandidierenden gewählt, die diesen Gestaltungswillen eher mitbringen und umsetzen können. Kommentartitel wie „Zürich wählt rot, tiefrot“ ignorieren schlicht und einfach die Realitäten der direkten Demokratie.


Ein spezielles Kapitel ist wieder einmal mehr der Live-Ticker von Tamedia, welcher ab 12 Uhr bis zum definitiven Wahlergebnis um 13:52 schlicht nichts zu sagen hatte. Zudem haben sich die MacherInnen dieses Live-Tickers offensichtlich noch nie mit Prognosen im städtischen Kontext bei kleinen Differenzen zwischen den KandidatInnen beschäftigt. Als Müsterchen:

13.22 Uhr: Ergebnis kippt: Wolff liegt in Führung. Nach fünf Wahlkreisen hat der AL-Kandidat fast 2000 Stimmen mehr.

13.13 Uhr: Der erste Stadtkreis hat gewählt. Im Kreis 6 hat Wolff knapp mehr Stimmen erhalten als der FDP-Kandidat Camin. Die Stimmbeteiligung liegt bei 33 Prozent.
Marco Camin liegt allerdings in den Wahlkreisen 1 und 2 sowie 7 und 8 deutlich vorne. Insgesamt hat er bereits 2000 Stimmen Vorsprung.

Ohne Verweis auf die Ergebnisse des ersten Wahlgangs sind derartige Aussagen absoluter Unsinn. Ich illustriere dies am Zwischenergebnis von vier Wahlkreisen (Stadtkreise 1+2, 4+5, 6, 7+8) und am Endergebnis.

Etwa um 13:15 Uhr waren 4 Wahlkreise ausgezählt. Dieses Zwischenergebnis lässt sich mit den Ergebnissen des 1. Wahlgangs vergleichen:

Zwischenergebnis Stadtratswahlen 2. Wahlgang 2013

Bereits nach vier ausgezählten Wahlkreises zeigt sich, dass Richard Wolff im 2. Wahlgang mehr Stimmen erzielt als im ersten Wahlgang, und dies in etwas stärkerem Umfang als Marco Camin. Werden die Regressionsergebnisse auf die noch nicht ausgezählten Wahlkreise im Sinne einer Hochrechnung übertragen, ergibt sich daraus eine Prognose für das Endergebnis von 27’066 Stimmen für Richard Wolff und 26’680 Stimmen für Marco Camin (rund 47 % der Stimmen). Die Endergebnisse von 13:52 mit 27’550 Stimmen für Richard Wolff, den neuen Stadtrat und 26’865 Stimmen für den unterlegenen Kandidaten Marco Camin zeigen eines: in den restlichen fünf Wahlkreisen verstärkte sich der Persönlichkeitswahlcharakter noch! Dies zeigt auch die Auswertung für das Endergebnis der Stadtrats-Ersatzwahlen vom 21. April 2013.

Endergebnis Stadtratswahlen 2. Wahlgang 2013

Die Empfehlung für Tamedia ist ganz einfach: entweder Wahlprognose-Abteilung ausbauen oder ganz auf die bisher gepflegten Spekulationen verzichten. Denn auch für die Medien und deren „Prognosen“ gilt: nach den Wahlen ist vor den Wahlen!


Details zu den Verschiebungen der GLP-Stimmen aus dem 1. Wahlgang zu Marco Camin und Richi Wolff im 2. Wahlgang

  1+2 3 4+5 6 7+8 9 10 11 12 Total
Camin+Wolff 1. WG 74.8% 78.4% 82.5% 75.2% 76.3% 72.8% 76.5% 75.6% 72.3% 76.2%
Camin+Wolff 2. WG 96.6% 97.7% 97.9% 97.1% 97.2% 96.0% 96.8% 95.6% 94.3% 96.6%
Differenz (Camin+Wolff) 2.-1. WG 21.8% 19.3% 15.4% 21.8% 20.9% 23.2% 20.3% 20.0% 22.0% 20.4%
Hodel 1. WG 20.4% 19.5% 15.0% 20.7% 19.2% 22.1% 19.7% 22.4% 22.3% 20.1%
Diff (Vereinzelte+Stadelmann) 2.-1.
WG
(neg: kleinerer Anteil, pos: grösserer Anteil im 2. Wahlgang)
-1.5% 0.3% -0.5% -1.1% -1.7% -1.1% -0.6% 2.4% 0.3% -0.3%
Diff Camin 2.-1. WG 4.1% 6.8% 4.6% 8.0% 9.7% 8.8% 8.5% 5.9% 11.0% 7.8%
Diff Wolff 2.-1. WG 17.7% 12.5% 10.9% 13.9% 11.2% 14.4% 11.8% 14.0% 11.0% 12.6%
Anteil Camin an Zunahme Stimmenanteil C+W 18.9% 35.4% 29.6% 36.5% 46.3% 38.0% 41.7% 29.7% 49.9% 38.4%
Anteil Wolff an Zunahme Stimmenanteil C+W 81.1% 64.6% 70.4% 63.5% 53.7% 62.0% 58.3% 70.3% 50.1% 61.6%