Recht auf Erinnerung – Recht auf Vergessen in der digitalen Welt

Bei Berichten über Wirbelstürme, Feuersbrünste und andere katastrophalen Ereignisse berühren regelmässig die mehr oder weniger gefassten Schilderungen der betroffenen Menschen, was für sie die schlimmste Folge dieses Ereignisses ist. Wenn keine Menschen zu Tode kamen, wird meist der Verlust der Erinnerungsstücke – jener Kiste also mit den über die Jahre gesammelten Fotos, auffälligen Steinen und anderen „Vergissmeinnichts“ und Erbstücken – angeführt.

Schon vor einiger Zeit habe ich einige Gedanken zum Erinnerungsverlust im Internet notiert – innerhalb eines Jahres „verschwinden“ etwa 7 % der externen Links, auf die ich in meinem Blog verlinke. Da ich seit einiger Zeit aus diversen Gründen auf ein Papierarchiv verzichte, verwende ich Wissensmanagement-Instrumente mit Direktlinks zu Originalquellen wie Zeitungsartikel oder Forschungsberichte. Wenn sich „Linkverschwinderate“ linear über das gesamte Linkinventar verteilt, wären rechnerisch 14 Jahre sämtliche Links „verschwunden“. Das ist nicht bei allen damit verbundenen Inhalten bedauernswert, die Gnade des Vergessens gilt auch hier. Es gibt aber immer wieder Informationen, die nicht nur historisch von Bedeutung sind, sondern die direkte Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft haben. Damit sich das Internet als Wissensspeicher mit ausreichend langem Erinnerungsvermögen eignet, ist ein bewusster Umgang im Sinne eines Wissensmanagements erforderlich.

Wenn ich etwa in Facebook oder im Mailprogramm in der Liste meiner Kontakte auf die Namen von Menschen stosse, die bereits gestorben sind, so verbinde ich dies zwar mit Erinnerungen, manchen angenehm, manche auch schmerzlich – aber ich frage mich dann jeweils schon, ob diese Form der digitalen Erinnerung von den bereits Verstorbenen tatsächlich beabsichtigt und gewünscht worden ist. Es soll und darf auch hier ein Recht des Vergessens geben können. „Sterben und Erben in der digitalen Welt” ist der Titel eines interdisziplinären Forschungsprojekts, welches sich etwa mit der Regelung des digitalen Nachlasses beschäftigt.

Wer sich in der digitalen Welt bewegt, hat sich also sowohl mit den digitalen Erinnerungen als auch mit dem Vergessen zu beschäftigen – durchaus auch als bewusster Umgang mit der Frage, wie und in welcher Form Menschen Spuren hinterlassen sollen (dies bezieht sich ja nicht nur auf das Sterben, sondern hat auch mit Jobwechseln und Amtsübergaben zu tun). Bei ExekutivpolitikerInnen wird ab dem ersten Interview nach der Rücktrittsankündigung regelmässig nach den „nachhaltigen“ Spuren des Wirkens gefragt.