Prinzip Hoffnung: Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit – eine der populärsten Worthülsen. Ein Webcomic „prognostiziert“ für den englischen Begriff „Sustainable“ für das Jahr 2109: „All sentences are just the word ’sustainable‘ repeated over and over.“ Dass Nachhaltigkeit so populär ist, ist zuerst einmal eine gute Sache.

Viele Menschen haben das Bedürfnis, Spuren zu hinterlassen durch ihr Wirken, durch ihre Werke und ihr Tun. Dazu gehört auch, das die meisten Menschen einen positiven Beitrag für die Gesellschaft und für das Wohlergehen leisten wollen. Davon zeugt auch das lateinische Sprichwort „De mortuis nihil nisi bene“ (Über Tote soll man nur Gutes reden).

Das Prinzip der Nachhaltigkeit entspricht der Sorge um die nachkommende Generation, ist Teil des Vorsorgegedankens. Die Überlegungen zur Nachhaltigkeit decken sich dabei von ihrem Grundgehalt her mit der goldenen Regel der Ethik „tue andern nur das an, was Du bereit bist zu akzeptieren, wenn andere es Dir antun„. Dies heisst: wie die goldene Regel ist Nachhaltigkeit ein abstraktes Konstrukt, ein Prinzip.

Die absolut richtige Konkretisierung solcher abstrakter Prinzipien ist nicht möglich. Der „Planet Erde“ als Gesamtsystem ist ein derart komplexes Gebilde, dass jede Modellbildung scheitern muss, selbst wenn sie einen bedeutenden Erklärungsbeitrag zu gewissen Vorgängen liefert.

Die Umsetzung der goldenen Regel der Ethik und damit auch der Nachhaltigkeit erfordert absolute Ehrlichkeit, ein Übermass an Transparenz und ein absolut richtiges Wissen über die relevanten Zusammenhänge. Es stellt sich auch hier die uralte Frage: wie viele Indikatoren braucht es, um mit absoluter Genauigkeit aussagen zu können, dass Entwicklungen ethisch verantwortbar sind?

Nicht nur Wirtschaftsfachleute setzen ausschliesslich auf das (zynische) BIP, auch wenn etwa die UNO an Überlegungen zu Inclusive Wealth (etwa „umfassender Wohlstand“) arbeitet.

„Rund 75 Indikatoren beschreiben die aktuelle Lage und Entwicklung der Schweiz hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte der Nachhaltigen Entwicklung. – 16 Schlüsselindikatoren geben einen Überblick über den Fortschritt auf dem Weg der Nachhaltigen Entwicklung.“ So beschreibt der Bund das Nachhaltigkeitsmonitoring MONET [Link angepasst 19. September 2022]. Schlussfolgerung aus der Beobachtung 2012 der Indikatoren [Link angepasst 19. September 2022]: Die Lebensbedingungen in der Schweiz sind gut und liegen im internationalen Vergleich auf einem hohen Niveau. Es bestehen jedoch sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene weiterhin Ungleichheiten. Aufgrund des Verbrauchs von nicht erneuerbaren Ressourcen können die verfügbaren Vorräte nicht für die künftigen Generationen erhalten werden. Dies heisst: ökonomisch geht es den Menschen in der Schweiz gut, in gesellschaftlicher Hinsicht gibt es einige Schwierigkeiten – bezüglich der Ökologie sind die SchweizerInnen weit ab von Nachhaltigkeit. Mit Blick auf nahe Volkswirtschaften wie Griechenland, Spanien, Italien, …, ist auch die ökonomische Schönwetterbeurteilung der Nachhaltigkeitsaspekte für die Schweiz zu relativieren.

Rund 75 Indikatoren, daraus 16 Schlüsselindikatoren – dies soll aus nationaler Sicht bereits gültige Aussagen über die nachhaltige Entwicklung erlauben. Aus dem Monitoring kann abgeleitet werden, dass die Entwicklung der Schweiz alles andere als nachhaltig ist. Eine Fortsetzung der bisherigen Politik würde daran nichts ändern!

Die Nachhaltigkeitspolitik der Schweiz gilt wie jene anderer reicher Länder als „weich“; Ziel ist, dass eine „nachhaltigere Entwicklung“ entsteht – im vollen Wissen darum, dass dies in absehbarer Zeit nicht ausreicht, den massiv übergrossen ökologischen Fussabdruck ausreichend zu verkleinern. Harte Nachhaltigkeit fordert demgegenüber eine „nachhaltige Entwicklung“.

Wenn das Nachhaltigkeitsmonitoring nicht einmal für die „weiche“ Nachhaltigkeit eine Entwicklung in die richtige Richtung ausweist, gibt es nur eine mögliche Schlussfolgerung: das Konzept der „weichen“ Nachhaltigkeit ist untauglich! „Weiche“ Nachhaltigkeit wurde erfunden, um „sanfte“ erste Schritte in Richtung nachhaltige Entwicklung mehrheitsfähig zu machen – das Monitoring zeigt, dass dies definitiv nicht gelungen ist.

Die Stimmberechtigten der Stadt Zürich haben mit ihren Entscheiden für die 2000-Watt-Gesellschaft am 30. November 2008 und für die Städteinitiative am 4. September 2011 mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck gebracht, dass lange Schritte Richtung „harte“ Nachhaltigkeit mehrheitsfähig sind. Auch wenn der Blick 40 Jahre in die Zukunft hinaus nicht demokratieüblich ist – weil damit durchaus auch Handlungen auf spätere Generationen verschoben werden könnten -, wurde hier in Teilbereichen der Ökologie-Komponente das abstrakte Konzept „nachhaltige Entwicklung“ konkretisiert. Deutlich weniger fossile Brenn- und Treibstoffe, keine Atomenergie mehr, Energieeffizienz – und damit verbunden immer auch die Frage nach dem Mass, nach den Ansprüchen (Suffizienz) – eine solche Vision ist zukunfts- und mehrheitsfähig (an der technischen Machbarkeit und Finanzierbarkeit haben nie Zweifel bestanden). Nicht sicher ist allerdings, ob die gesetzte Frist von 40 Jahren nicht zu lange ist, um der ethischen Verantwortung gerecht zu werden. Auf jeden Fall sollte diese Zeit ausreichen, um „Abschied zu nehmen von der Verschwendung„, wie der Ethiker Otto Schäfer ausführt: Ethische Überlegungen legen nahe, in der Energiepolitik auf Effizienz und Suffizienz zu setzen. Doch rechnet die Ethik oft zu wenig mit der Trägheit und Widersprüchlichkeit der Menschen. Wahrscheinlich ist ein kollektiver Trauerprozess notwendig, um uns von unserer verschwenderischen Lebensweise zu verabschieden.

Eine eigentliche Gegenbewegung zur Nachhaltigkeitsdebatte hat seit einiger Zeit eingesetzt – die BeliebigkeitshedonistInnen in Zusammenarbeit mit den Climate Criminals beginnen sich auszudrücken. Sie sprechen und schreiben davon, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Atomausstieg versuchten bloss, den (Genuss-)Menschen ein schlechtes Gewissen anzuhängen. Oder anders: gebildete Menschen in so genannt aufgeklärten und demokratischen Rechtsstaaten verlangen, als „ErstklassbürgerInnen“, so quasi als demokratisierte Version des französischen Sonnenkönigs Louis XIV (zeitgeistig „Après moi le déluge“ – nach mir der Weltuntergang) durch die Welt gehen zu können. Nochmals anders: „Schlechtes Gewissen“ gehört nicht zum Wortschatz der Nachhaltigkeits-DenkerInnen und – umsetzerInnen. Diese Menschen denken in Szenarien, drücken sich also in „Wenn-dann“-Zusammenhängen aus. Abwahl der Atomenergie, Verzicht auf Oel- und Gasheizungen, Teilzeit-Vegi, Verkehrssparen und weniger Verkehrsnachfrage … – alles eigentlich längst Praxis, durchaus mit einer längerfristigen Umsetzungsperspektive, wo bitte wird hier an das schlechte Gewissen appelliert? Wer übrigens meint, Nachhaltigkeit sei ein zu enger Fokus (z.B. Michael Hermann am 15.5.2012 im Tagesanzeiger) hat noch nicht verstanden, dass Nachhaltigkeit ein Konzept ist – und die Begrenzungen durch jene entstehen, die Nachhaltigkeit für sich interpretieren.

Diese Offenheit, diese „Worthülsigkeit“ von Nachhaltigkeit ist sowohl Chance wie Risiko!

Als klare Empfehlung: wenn die Menschheit einen aktiven Beitrag zur Zukunftsfähig der Erde – zum Beispiel als Lebensraum für zukünftige Generationen – leisten will, dann ist die Entwicklung hin zu einer „harten“ Nachhaltigkeit ein plausibler Weg: Prinzip Hoffnung! Wobei: ohne Verabschiedung des Tabus „Wirtschaftswachstum“ (verstanden als Zunahme des (zynischen) BIP und der Annäherung an Inclusive Wealth wird dies allerdings nicht funktionieren!