Occupy: Revival Freie Sicht aufs Mittelmeer?

„Weg mit den Alpen, freie Sicht auf das Mittelmeer“ hiess eine der Forderungen der 1980er-Bewegung in Zürich. Wer jetzt die Augen verdreht und sich über die scheinbare Absurdität dieses Claims aufregt: bitte zur Kenntnis nehmen, dass jede Forderung, die aus der segmentierten Gesellschaft formuliert wird, für einen anderen Teil der Gesellschaft absurden Charakter hat. Gesellschaftliche Entwicklungen haben häufig einen Ursprung bei Menschen, die von anderen als „Spinner“ betitelt werden. Dass „Occupy“ unabhängig vom Wahltermin für National- und Ständerat stattfindet, illustriert einmal mehr, dass Politik nur das nachvollzieht, was in der Gesellschaft mehrheitsfähig ist.

Die Welt verändert sich dauernd. Auch die Gesellschaft verändert sich dauernd, auch wenn den einzelnen Individuen eher an Stabilität, also z.B. einer gesicherten Existenz, gelegen ist. Die Menschheit hat sich an veränderte Randbedingungen anzupassen, kann aber auch gestalterisch tätig sein: Adaption und Mitigation. Daraus ergibt sich: die Forderungen an die sich ändernde Welt, an die sich ändernde Gesellschaft sind sowohl vielgestaltig , absurd, bunt – und nicht mit einem einzigen Satz erklärbar

Europa und Amerika sind in ihrer Sicht der Welt geprägt von der Aufklärung und den nachfolgenden Epochen, insbesondere aber auch von der französischen Revolution mit den Idealen „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“. Als Reaktion auf die absolutistische Herrschaft des französischen Sonnenkönigtums wurde die Forderung nach einer egalitären Gesellschaft erhoben. Eine Gesellschaft der gleichen Chancen und Möglichkeiten!

Wir alle wissen: wir sind weit davon entfernt! Spätestens seit der Einführung des Begriffs der nachhaltigen Entwicklung (z.B. Brundtland-Report) im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist zudem klar: das, was wir tun oder auch nicht tun, hat Auswirkungen auf die gesamte Erde und damit die Menschheit, und zwar heute, aber auch für zukünftige Generationen.

Geld kann man nicht essen! Banken waren immer ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaft: wirtschaftliches Handeln erfordert Finanzierungsdienstleistungen. Daraus hat sich eine auch aus dem Branchen-Selbstverständnis heraus eigenständige Wirtschaftsrichtung entwickelt, die Finanzindustrie. Etwas plump: offenbar gibt es zu viel Geld, um damit den Wirtschaftskreislauf zu alimentieren; Geld, eigentlich bloss Tausch- und Transaktionsmittel, hat ein Eigenwesen entwickelt. Sowohl Private wie Unternehmen besitzen Geldmengen, die deutlich grösser sind als der Bedarf der Volkswirtschaft! Investment-Banking, der Versuch, aus Geld noch mehr Geld zu machen, hat zwar den Charakter eines Spielcasinos; trotzdem bietet sich dadurch die Möglichkeit, dass Reiche noch reicher werden (von den Verlusten in diesem Casino wird in der Regel nicht gesprochen, ausser es handelt sich um einen Kriminalfall).

Festzuhalten ist: das gegenwärtige Geldsystem ist nicht nachhaltig, im Gegenteil: schnelle und starke Veränderungen gehören zwingend zu diesem System, Gewinne und Verluste gehören zusammen.

Ein Teil dieser aktuell „überflüssigen“ Geldmenge stammt aus dem System der Altersvorsorge: aus dem Erwerbseinkommen wird ein Teil auf die Seite getan, um damit das Leben im Alter finanzieren zu können. Es ist davon auszugehen, dass dieses System hochgradig nicht-nachhaltig ist! Es führt nichts daran vorbei, die aktuelle Altersvorsorge so rasch als möglich durch ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle abzulösen.

Der „Erfolg“ der Ideale Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit hat auch damit zu tun, dass es sich um Konzepte, um Konstrukte handelt. Die Weltformel gibt es nicht. Es gibt Teilindikatoren – vom Pro-Person-BIP bis zum ökologischen Fussabdruck. Alle diese Indikatoren weisen auf erhebliche Ungleichgewichte hin; allerdings sind gerade Indiaktoren wie das BIP gefährlich, weil sie Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit auf die Geldebene verschieben – und dieses ist nicht einmal essbar!

Dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit Konzepte sind, führt auch zu einer erheblichen Missbrauchsgefahr. In der Schweiz kultiviert etwa die $VP, das Gefühl, „Andere“ hätten mehr vom Kuchen, egal, ob Geld, Freiheit, … – und es sind immer „Andere“, die gemäss $VP Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit bedrohen sollen. Deshalb hier zur Erinnerung als Zitat die goldene Regel der Ethik, in der Formulierung des Kant’schen Imperativs: tue andern nur das an, was Du bereit bist zu akzeptieren, wenn andere es Dir antun.

Die Demokratisierung der Information (bis hin zur Populisierung) zum Beispiel über das Internet verbunden mit der Transparentmachung geheimer Informationsflüsse etwa durch Wikileaks führt allerdings auch zu einer schwierigen Entwicklung: Verschwörungstheorien erhalten in der öffentlichen Wahrnehmung mehr Gewicht als wissenschaftliche Aussagen, die einen Sachverhalt mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt darstellen. Am Beispiel Klimawandel/Climate Gate: die LeugnerInnen/IgnorantInnen des Mensch gemachten Klimawandels feiern Hochkultur, weil ihr aktueller Stand des Un- oder Nichtwissens ganz banal zur freien Meinung deklariert wird. So wird etwa behauptet, die geringe Veränderung des CO2-Gehaltes der Atmosphäre durch menschliche Aktivitäten könne angesichts des geringen Gehalts der Luft an CO2 gar keine Auswirkungen auf das Klima haben. Zur Illustration: der CO2-Gehalt der Atmosphäre beträgt etwa 0.04 Prozent, aktuell (September 2011) entsprechend etwa 390 ppm – hier der aktuelle Wert:
CO2
. Im Moment steigt dieser Wert um etwa 2 ppm pro Jahr, Veränderungsrate ein halbes Prozent pro Jahr – oder 0.000205 Prozent des CO2-Anteils an der Atmosphäre. Ich gehe davon aus, dass Wikipedia als allgemein anerkannte Wissensbasis gelten kann. Wer sich zum Thema „Mensch gemachter Klimawandel“ äussert, sollte zumindest die Wikipedia-Seite „ Klimasensitivität“ gelesen und vor allem verstanden haben. Wer dann – ohne nachvollziehbare physikalische Begründung – immer noch behauptet, es gäbe keinen Mensch gemachten Klimawandel, ist schlicht dumm. P.S. Man kann durchaus der Ansicht sein, der aktuell von der Wissenschaft grossmehrheitlich belegte Mensch gemachte Klimawandel sei gesellschaftlich akzeptabel, das gehört zur Meinungsfreiheit – allerdings müsste dann auch noch ausgeführt werden, wie dies mit der goldenen Regel der Ethik vereinbart werden kann.

Es ist etwa festzustellen, dass sowohl die gesellschaftliche wie die politische Diskussion meist nur eindimensional erfolgt – so scheint es etwa sehr schwierig zu vermitteln, dass eine nicht-nukleare und nicht-fossile Energieversorgung gleichzeitig möglich ist!

Festzuhalten ist: bei der Diskussion um den Mensch gemachten Klimawandel ist zu beachten, dass es einen Klimawandel unabhängig von menschlichen Einflüssen gibt. Gegenstand der Diskussion kann nur sein, ob der zusätzlich durch den Mensch verursachte Klimawandel zu akzeptieren ist und welche Massnahmen zu ergreifen sind.

Occupy ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, weil solche gesellschaftlichen Vorgänge immer auch ein mehr oder weniger latentes Unbehagen über aktuelle Diskussionen und Entscheide ausdrücken. Demokratien sind historisch betrachtet vor allem dazu geeignet, zunehmenden „Wohlstand“ – meist als Zunahme des BIP verstanden – mehrheitsfähig zu verteilen. Es ist festzuhalten, dass derzeit diese Verteilung sicher global, aber wahrscheinlich auch national nicht den Intentionen einer egalitären Gesellschaft entspricht. Wobei: auch der ökologische Fussabdruck der objektiv und/oder subjektiv Benachteiligten in den reichsten Ländern liegt deutlich über dem, was als nachhaltig zu bezeichnen ist. Occupy ist somit auch als deutliche Aufforderung zu verstehen, die Verminderung des ökologischen Fussabdrucks unter Berücksichtigung der Errungenschaften der Aufklärung und der Ideale der französischen Revolution zu erreichen.

„Freie Sicht aufs Mittelmeer“ – dieser Slogan soll als Gedankenstütze dienen, dass es eben um mehr als Geld geht bei den Diskussionen um die zukünftige, möglichst nachhaltige Entwicklung. Zum Beispiel um „Glück“!