Logik des plausiblen Schliessens

Seit langer Zeit fällt auf, dass der Autoanzeiger (früher Tagesanzeiger) völlig unpassende Schlagzeilen schreibt. Eine davon: „Die Lichtgestalt der Zukunftsseher„. Es geht darum, dass Nate Silver eine sehr exakte Prognose des Ergebnisses der amerikanischen Präsidentschaftswahlen abgeliefert hat. Bei allem Respekt vor dieser Leistung: Nate Silver ist eben gerade kein Zukunftsseher, sondern beherrscht die Logik des plausiblen Schliessens.

Ich habe mich während langen Jahren hobbymässig mit Volksabstimmungen im Kanton Zürich beschäftigt. Ebenfalls mit den Methoden der Logik des plausiblen Schliessens habe ich regelmässig sehr exakte Aussagen zum Ausgang von Volksabstimmungen ermitteln können. Meine Absicht war allerdings nicht das Publizieren von Prognosen, sondern so etwas wie eine Politikplanung. Es geht etwa um Fragen der mehrheitsfähigen Themen, um die Einflussfaktoren, die über das Ja oder das Nein in einer Abstimmung entscheiden – bis hin zu den manipulativen Geldströmen aus dem Umfeld der $VP. Es handelt sich dabei um zwar datenmässig umfangreiche, letztlich aber eher einfache statistische Modelle; dies alles ist bewältigbar mit Standard-Computern und Open Source-Software.

Ich habe die Ergebnisse meiner Abklärungen allerdings auch darum nicht publiziert, weil ich ein politischer Mensch bin. Es ist situativ zu entscheiden, ob der Abstimmungsprozess oder das Abstimmungsergebnis wichtiger ist!

Es gibt Fragestellungen, bei denen ist ein Nein (oder allenfalls ein Ja) in der Volksabstimmung verboten – da geht also nicht um Prognosen, sondern um die richtige Wahl des Themas und um die Mittelbeschaffung, um das gewünschte Ergebnis in der Volksabstimmung „kaufen“ zu können. Ich stehe dazu, auch die Politik ist ein Marketing-Thema, vielleicht, wie in den US-Präsidentschaftswahlen, auch ein Show- respektive Unterhaltungsthema.

Es gibt andererseits Politik-Themen, die so grosse Veränderungen erfordern, dass es mehrere Anläufe zur Realisierung braucht (ein immer wieder zitiertes Beispiel dazu ist das Frauenstimmrecht). Bei solchen Themen braucht es keine Prognosen, im Gegenteil, da sind Prognosen geradezu schädlich.

Medien und Öffentlichkeit haben ein gestörtes Verhältnis zu Aussagen, die die „Zukunft“ betreffen. Exemplarische Beispiele sind „Grenzen des Wachstums“ (Bericht an den Club of Rome) oder IPCC-Klimaschutzberichte. Da geht es eben genau nicht um Zukunftseherei, sondern um Szenario-Überlegungen: was könnte passieren, wenn dies oder das gemacht wird – auch hier wieder „Logik des plausiblen Schliessens“. Auch die Ueberlegungen zur Energiestrategie 2050 des Bundes sind keine Hellseherei, sondern Szenarien. Wenn es Wege gibt, um die Energieversorgung 2050 ohne fossile Energien und ohne Atomenergie für eine 8-Millionen-Schweiz abzudecken, dann gibt es auch Wege, dies in einer 10-Millionen-Schweiz zu tun! An diesem Zusammenhang kann auch das Geschwafel von Autoanzeiger und $VP und der Atomlobby nichts ändern. Dazu passt auch, dass z.B. auch der Autoanzeiger lächerliche Prognosen – welche den Methoden des plausiblen Schliessens nicht entsprechen – z.B. über Regierungs- oder Stadtratswahlen veröffentlicht.

Die prinzipiellen Aussagen von „Grenzen des Wachstums“ sind eingetroffen – mit „2052 – Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre“ hat Jørgen Randers, einer der Autoren von „Grenzen des Wachstums“, eine andere Form gewählt: aufgrund der bitteren Erkenntnis, dass Wissen über Szenarien nicht zum dringend notwendigen Handeln führt, beschreiben er und viele MitautorInnen die Bandbreiten von möglichen Folgen des nicht ausreichenden Handelns.

Prognosen könnten allerdings helfen, «unser Schicksal selbst zu bestimmen». So wird Nate Silver im oben verlinkten Autoanzeiger-Artikel zitiert. Hier sind sich also Jørgen Randers und Nate Silver einig: in die Zukunft muss man nicht „sehen“ – die Zukunft ist zu einem erheblichen Teil gestaltbar. Der Schlüssel dazu liegt in der Logik des plausiblen Schliessens!