Gestaltbare Zukunft – wer trägt dazu bei?

Das Gottlieb Duttweiler Institute stellt die Frage „Welche Köpfe bestimmen den aktuellen Diskurs über die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft?“ und gibt die Antwort mit einer «Thought-Leader-Map». Selbst wenn solche Hitlisten fragwürdig sind, führt diese Vordenker-Liste einer Institution, dies sich als „Think Tank“ sieht, doch zu einigen Fragen.

Die eigentlich gute Botschaft zuerst, zitiert aus dem GDI-Newsletter: „Kein Denker ragt wirklich heraus, der Abstand zwischen den Stars und den weniger bedeutenden Wissenschaftlern ist relativ klein.

Das erste Fragezeichen ergibt sich allerdings bereits aus diesem Text: die männlichen Formulierungen sind bezeichnend, die erste Frau auf dieser Liste steht auf Platz 18, in den 41 Toppositionen im GDI Thought-Leader-Index sind genau drei Frauen aufgeführt. Von Gendergerechtigkeit hält das GDI nichts – oder ist dies allenfalls eine Vorliebe des vom GDI beauftragten Peter Gloor von Galaxyadvisors.

Diese Limitation des GDI Thought-Leader-Indexes führte dazu, dass ich mir die Liste der 41 Namen – Richard Florida, Thilo Sarrazin, Daniel Kahneman, David Graeber, Steven Pinker, Douglas Rushkoff, Niall Ferguson, David Gelernter, Frank Schirrmacher, Franz Josef Radermacher, Ray Kurzweil, Bruce Sterling, Matt Ridley, Gerd Gigerenzer, Michael J. Sandel, Peter Diamandis, Edward O. Wilson, Anne-Marie Slaughter, Rupert Sheldrake, Manuel Castells, Saskia Sassen, Zygmunt Bauman, Jonathan Zittrain, James C. Scott, Edward Glaeser, Joseph Stiglitz, Abhijit Banerjee, Paul Collier, Richard Dawkins, Slavoj Žižek, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ernst Fehr, Kevin Kelly, Stephen Hawking, Hans Christoph Binswanger, Harald Welzer, Jeremy Rifkin, Paul Krugman, Esther Duflo, Robert D. Kaplan, Nassim Taleb – etwas genauer angeschaut habe.

Im Mittel haben diese „Vordenker“ Jahrgang 1951, mit einer Bandbreite von 1925 bis 1972 (im Jahr 2012 sind die „Vordenker“ also im Mittel 61 Jahre alt, mit einer Spanne von 40 bis 87 Jahren).

Die „Vordenker“ stammen/arbeiten zu mehr als der Hälfte in den USA, Menschen mit Herkunfts-/Wirkungsort Grossbritannien und Deutschland machen zusammen fast einen Drittel der Liste aus. Je fünf weitere Nennungen beziehen sich auf je eine Person aus Österreich, der Schweiz, Frankreich, Spanien und Slowenien. P.S. Abhijit Banerjee aus Indien und Nassim Taleb aus dem Libanon wirken seit langen Jahren in den USA. Bei fünf Personen, in den USA lebend/wirkend, ist in Wikipedia ein Bezug mindestens zu ihrer jüdischen Familiengeschichte festgehalten. Letztlich handelt es sich bei den GDI-Vordenkern um Menschen aus dem jüdisch-christlich geprägten Europa und Nordamerika – ohne Religionsbezug sind es vorwiegend Menschen aus stark von der europäischen Aufklärung beeinflussten Ländern! Das GDI geht also offenbar davon aus, dass nur etwa 10 % der Weltbevölkerung über Vordenker verfügen – eine ziemlich verfehlte Annahme.

Eine speziellen Beitrag dazu leistet die erstplazierte Frau auf der Liste, Anne-Marie Slaughter, zeitweise Leiterin des Planungsstabes des amerikanischen Präsidenten Barack Obama. 2004 hat sie ein Buch herausgegeben mit dem Titel „A New World Order“ – zwar durchaus ermutigend im Sinne eines verflochtenen Netzwerkes von demokratischen Regierungselementen – aber eben auch wieder die amerikanische Sicht, geprägt vom Terror-Verständnis der USA. Auch der Titel „The Idea That Is America: Keeping Faith with Our Values in a Dangerous World“ aus dem Jahr 2007 setzt auf die „gute“ USA – und bezeichnet den Rest der Welt als gefährlich. Diese Vordenkerei mag kaum einen Beitrag leisten einerseits zum Verständnis der Situation in anderen Regionen dieser „gefährlichen Welt“, andererseits auch als Beitrag zur Diskussion in der gefährlichen Welt.

Das GDI fordert von den „Vordenkern“ Überdisziplinarität – die wissenschaftlichen Karrieren (und es sind überwiegend solche!) zeigen einen Einblick in das, was unter Überdisziplinarität zu verstehen ist: sehr ausgeprägt sind RepräsentantInnen der Wirtschaftswissenschaften vertreten – inklusive drei Wirtschafts-Nobelpreisträger. Auch Soziologie, Psychologie, Bio- und Zoologie sind als Grundausbildungen stark vertreten, beachtlich auch die Bedeutung der Informatik. Schwach vertreten sind Ingenieurbereiche und kulturelle Aspekte, am ehesten noch Literatur. Auch wenn Publikationen für „Vordenker“ zwingend sind, fällt auf, dass viele dieser Menschen auch populäre Publikationen vorweisen können.

Dass es keine wirklich herausragenden „Vordenker“ gibt und der Abstand zu den „Normalos“ bei den DenkerInnen nicht sehr gross ist, weist auch darauf hin, dass die Fragestellungen vielfältig und komplex sind. Ich habe mir aus Wikipedia zu jeder der 41 Personen einige Begriffe und Erläuterungen herausgeschrieben – hier folgt die unsortierte Zusammenstellung!

Creative Class – Prospect Theory (Neue Erwartungstheorie) – Anarchist, sozialer und politischer Aktivist – Sprache und Geist – Medientheorie – Imperialismus – konservativer Kulturjournalist – Global Marshall Plan Initiative – politischer Hacker – evolutionäre Adaption, rationaler Optimismus: „Wage es, ein Optimist zu sein“ – begrenzte Rationalität, Heuristiken, einfache Entscheidungsbäume (rationale Entscheidungen bei begrenzter Zeit und Information mit ungewisser Zukunft ungewiss), bis „Bauchentscheidungen“ – Wegbereiter der kommunitaristischen Kritik am „philosophischen Liberalismus“ – skyboxification – X PRIZE Foundation (private Weltraumflüge) – Biophilie-Hypothese: Grundlage der anthropozentrischen Umwelt- und Naturschutzethik (aus dem Eigeninteresse des Menschen heraus die biologische Vielfalt bewahren) – Hyothese der formgebenden Verursachung, u.a. Verbindung christlicher mit östlicher Tradition, gilt als pseudowissenschaftlich – marxistische Stadtsoziologie – Soziologie der Stadtentwicklung, Globalisierungsprozesse, Wanderungsprozesse Arbeit und Kapital, Einfluss moderner Kommunikationsmittel, transnationale Wanderungsbewegungen „global city“ – neuartigen Kontingenz als Kennzeichen der Lebensverhältnisse der „liquiden“, d. h. „verflüssigten“ Moderne, Macht ist post-panoptisch – Zukunft des Internets, Recht im Internet – Moral Economy – Stadtökonomik (Stadtwachstum, Segregation, Kriminalität, Wohnungs- und Immobilienmärkten). Rolle der geographischen Nähe bei Innovation – Institute for New Economic Thinking, Schatten der Globalisierung – Makroökonomie, Informationstheorie sowie Entwicklungsökonomie, – Experte für afrikanische Wirtschaft und der Ökonomien der Entwicklungsländer – neuer Atheismus – Subjektivität, Ideologie, Kapitalismus, Fundamentalismus, Rassismus, Toleranz, Multikulturalismus, Menschenrechte, Ökologie, Globalisierung, Irakkrieg, Revolution, Utopie, Totalitarismus, Marxismus, Postmoderne, Popkultur, Oper, Kino, politische Theologie und Religion – Umweltpolitik – Excellence Foundation Zurich for Economic and Social Research – Eine kurze Geschichte der Zeit – ökologische Steuerreform, nicht-marxistischer Geld- und Wachstumskritiker – Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung, Futurzwei – Economic Trends, Zugangsgesellschaft – free-market Keynesian – die bestehende Möglichkeit einer Klimakatastrophe sollte die politische Entscheidungsfindung leiten – Entwicklungsökonomie, Poor Economics – Sicherheitspolitik, Pagan Ethos – Schwarze Schwäne.

Mir scheint allerdings, dass diese Vordenker nicht wirklich Auswirkungen auf die realen Entscheidungen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben – oder ist Zukunft mit Vordenkern nach GDI-Art gar nicht gestaltbar? Jede und jeder ist gefordert, Beiträge zur Gestaltung der Zukunft zu leisten – das kann nicht an VordenkerInnen delegiert werden! Dazu schon fast der Spruch des Jahres: „To Do“ – Tu Du.


Mit eine Erklärung für die nicht global gültige Auswahl der „Vordenker“ liefert das „Kleingedruckte“ zu den Kriterien für die Berücksichtigung in der Auswertung: Es müssen lebende Personen sein, die sich in ihrer Forschung mit zukünftigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen befassen; überdisziplinär denken und bekannt sind; auch englisch publiziert sind; selber forschen und in wissenschaftlichen Journals publizieren.