EU Europäische Union und Schweiz: Nein zu einem Beitritt der Schweiz

Anfang Oktober 2005: Die Internet-Medien zitieren den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan im Zusammenhang mit der Diskussion innerhalb der EU über Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei: Die EU stehe vor der Entscheidung, ob sie eine globale Macht werden oder ein „christlicher Verein“ bleiben wolle.

Herr Erdogan liegt völlig neben den Fakten: In der EU der 25 Länder wohnten Ende 2004 rund 457 Mio Menschen. Die Türkei hat eine Bevölkerung von rund 70 Mio Personen (USA: 292 Mio, Japan: 127 Mio, China: 1’300 Mio, Indien: 1’080 Mio). Die EU ist bereits eine globale Macht! Herr Erdogan ist im übrigen Ministerpräsident eines Landes, welches sich gemäss Verfassung als „laizistische Republik“ definiert – Herr Erdogan spricht allenfalls als Privatperson, jedoch in keinem Fall als Vertreter der offiziellen Türkei, wenn er in sehr abwertender Weise von einem „christlichen Verein“ spricht. In den Ländern dieses „christlichen Vereins“ werden immerhin die Menschenrechte garantiert, und es ist erlaubt, historische Tatsachen beim Namen zu nennen – nicht wie in der Türkei, die sich nach wie vor weigert, den unbestreitbaren Genozid (Völkermord) an der armenischen Bevölkerung als solchen anzuerkennen. In diesem Zusammenhang bekommt auch der „christliche Verein“ einen anderen Klang, waren doch die Armenier mehrheitlich Christen!

Entgegen der Einschätzung von Herrn Erdogan ist die EU bereits heute globale Macht – für mich ein gewichtiger Grund, dafür einzutreten, dass die Schweiz nicht Mitglied der EU wird!Die USA – nicht nur selbst ernannte globale Macht oder „Weltmacht“ – zeigt als Negativbeispiel, was es bedeutet, als Weltmacht aufzutreten. Eine europäische Armee, eine europäische Aussenpolitik werden derzeit gefordert: auch diese globale Macht EU möchte sich also in die Lage versetzen, sich ihr in den Weg stellende Hindernisse mit Gewalt zu entledigen (Gewalt: immer mit Leid, Tod, Gewalt, Barbarität, … verbunden). Die USA setzt seit langem ihre Weltmachtfähigkeit dazu ein, sich ungerechtfertigte Privilegien zu sichern – der Weltmacht-Riese USA lebt auf viel zu grossem Fuss und holt sich den gesellschaftlich geforderten Ueberfluss regelmässig mit militärischer Gewalt. Diverse Grossmachtsgelüste auf europäischem Boden haben bereits zu sehr viel Leid geführt – nicht nur bei Napoleon oder den Nationalsozialisten.

Die hohen Erdölpreise, die hohen Stahlpreise weisen auf eines hin: in einer Welt der knapper werdenden Ressourcen ist zu befürchten, dass auch weiterhin der Zugang zu den Ressourcen mit Gewalt erkämpft wird. Eine EU als globale oder Weltmacht trägt weltmacht-mässig zu einer ungerechten, unsolidarischen, unökologischen Welt bei! Die EU als Weltmacht verstärkt Trends hin zu einer Zwei- oder Mehrklassen-Welt!Es gibt selbstverständlich globale Zusammenarbeitmodelle, die nicht das Ungleichgewicht verstären, sondern Solidarität, Gerechtigkeit, Gemeinschaftlichkeit, … voranbringen: Kooperation mit ausdrücklicher Ächtung jeder Form von Gewaltanwendung. Dazu müssten aber gerade die überentwickelten Länder – und viele davon gehören der EU an – auf bisher beanspruchte Privilegien verzichten. Eine EU, die immer grössere Kreise zieht, entfernt sich immer stärker vom weisen Ratschlag „Global denken, lokal handeln“ – sie wird immer anonymer und verunmöglicht es den Menschen immer stärker, die Zusammenhänge zwischen eigenem Handeln und den direkten und indirekten Auswirkungen auf das Raumschiff Erde zu erkennen. Demokratien, insbesondere indirekte, neigen in der Tendenz dazu, zu überentwickelten Überfluss-Konsumgesellschaften zu werden.

Die Schweiz gehört zwar auch zu den Überflussgesellschaften. Die relative Kleinräumigkeit und der starke Bezug zum empfindlichen Lebensraum Oeko- und Geotop Alpen bieten in Kombination mit den Mitteln der direkten Demokratie (bis hin zu Unterschriftensammlungen für Initiativen und Referenden) die Chance, den Übergang zu einer suffizienten, materiell bescheidenen Gesellschaft, welche nicht auf Kosten zukünftiger Generationen und anderer Völker lebt, eigenständig, eigenverantwortlich und freiwillig zu gestalten.


Ein Nachtrag zur Türkei (20. August 2007) 

Ein Zitat aus einer Medienmitteilung der OSZE vom 19. August 2007: However, a combination of restrictive legal provisions stands in the way of developing a pluralistic political party system and decreases accountability of elected representatives to voters. Those include a high threshold for representation in the parliament, provisions that parties choose only after the elections which candidates become members of parliament and undue limitations on the right to seek public office.

Die OSZE bemängelt also unter anderem, dass das Wahlsystem die Entwicklung eines pluralistischen Systems behindert, wegen der hohen Schwellen für die Vertretung im Parlament. Diese Medienmitteilung betrifft nicht die Türkei, sondern Kasachstan. Demokratie ist ein langer Prozess, ein Dauerprozess, und selbst Länder wie die Schweiz mit uralter demokratischer Tradition müssen immer wieder daran arbeiten, die Repäsentanz und damit Legitimität des Parlaments zu verbessern. Als ein Beispiel: erst 2006 wurde im Kanton Zürich respektive in der Stadt Zürich ein System eingeführt, dass dafür sorgte, dass genügend grosse Wahlkreise zustande kommen, um keine übermässige Prozentanteils-Hürde für die Vertretung im Parlament zu bewirken. Die Schwelle ist immer noch vorhanden, aber deutlich kleiner geworden, dank dem „doppelten Pukelsheim„. Also, Demokratien müssen sich weiterentwicklen. Es gibt keine perfekte Demokratie, was allerdings kein Grund ist, noch viel schlechtere Lösungen als ausreichend demokratisch zu bezeichnen.

Demokratische Verbesserungen sind gerade auch für die Türkei dringend. Auch hier gibt es sehr hohe Schwellen für die Zulassung zum Parlament. Das etwas eigenartige Wahlsystem führt dazu, dass die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ mit einem Stimmenanteil von 46.6 Prozent 62 Prozent der Abgeordneten stellt, während die „Republikanische Volkspartei“ mit 20.9 Prozent der Stimmen gerade etwa ihrer Stärke entsprechend mit 20.4 Prozent der Abgeordneten im Parlament vertreten ist, während die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ mit 14.3 Prozent Stimmenanteil mit 12.8 Prozent der Abgeordneten leicht untervertreten ist. Diese Parteien machen 82 Prozent der Stimmen, aber 95 Prozent der Parlamentsmadate aus. Da reicht ein bisschen „doppelter Pukelsheimer“ nicht, da braucht es grundsätzliche Aenderungen. Kann und darf es in einer Demokratie sein, dass eine Partei, die nicht einmal die Mehrheit der Stimmenden hinter sich hat, fast absolutistisch regieren kann und beispielsweise versucht, den Staats-Präsidenten ihres Willens zu installieren.

Im übrigen beziehe ich damit in keiner Form Position für eine der Parteien oder Personen, ich betreibe „nur“ Demokratie-Mathematik. Es ist und bleibt festzuhalten: in der Türkei ist der in der Demokratie zentrale Grundsatz „eine Person, eine Stimme“ in keiner Art und Weise eingehalten. Selbstverständlich sind die Wahlen im Sinne des Gesetzes abgelaufen, aber Demokratien sind zwingend auf die Legitimität ihrer Legislativen und Exekutiven angewiesen – parlamentarische Mehrheiten, die sich nicht auf eine breite Abstützung in der Bevölkerung verlassen können, regieren an der Bevölkerung vorbei und führen zu Staatsverdrossenheit. Ein weiteres unrühmliches Beispiel: der republikanische Präsident George W. Bush – auch er nicht von der Mehrheit der Stimmberechtigten, sondern „nur“ von der Mehrheit der „Wahlmänner“ gewählt. – Erschreckend, was dieser Mensch in seiner Nicht-Repräsentativität in der Welt angerichtet hat.