Der Preis der direkten Demokratie: PR in eigener Sache wichtiger als Inhalte

Die Erfolge der $VP-Strategie „Versuche mit der Käuflichkeit von Volksentscheiden“ und die schon fast unendliche Geschichte der Nationalratsliste 2011 der SP Kanton Zürich mit der Diskussion über einen allfälligen Listenplatz der langjährigen Nationalrätin und Präsidentin des Schweizerischen MieterInnen-Verbandes Anita Thanei zeigen deutlich: in der direkten Demokratie geht es nicht um Inhalte, da geht es um PR in eigener Sache, dies gilt sowohl für die Parteien als auch die Einzelpersonen. Dies hat damit zu tun, dass der Politik der kontinuierliche Verbesserungsprozess fehlt.

Wie lässt sich Erfolg in der Politik ermitteln? Letztlich geht es in der Demokratie um den Ausgleich verschiedenster individueller und gesellschaftlicher Interessen, um dadurch das generelle Wohlbefinden etwa in Form der mittleren Unzufriedenheit der Individuen mit der aktuellen Situation zu optimieren. Ein erheblicher Teil dieser Interessen sind hochgradig widersprüchlich: das Bruttoinlandprodukt BIP als traditioneller Indikator der wirtschaftlichen Entwicklung beurteilt auch Symptombekämpfungen positiv – der aktuelle ökologische Fussabdruck der Schweiz weist darauf hin, dass die „mittlere Schweizerin, der mittlere Schweizer“ zulasten anderer Weltgegenden und zukünftiger Generationen lebt, also weit entfernt ist von einem nachhaltigen Lebensstil! Nach wie vor steht die Behauptung im Raum, dass die Demokratie vor allem dazu taugt, eine minimierte Unzufriedenheit bei der mehrheitlich anerkannten Verteilung des ungerechtfertigten Übermasses zu erreichen.

Gemeinsame Ziele – „Global Goals“ – kennen weder Gesellschaft noch Politik. Etwas grob vereinfachend: Politik ist der Ausgleich der Partikulärinteressen diverser Minderheitengruppen. Solange es keine gemeinsamen Ziele gibt, wird es auch in der Politik keinen kontinuierlichen Verbesserungsprozess geben. Oder anders: Politik ist das Tummelfeld von SelbstdarstellerInnen, ist ein Sammelsurium von Gruppenegoismen. Dadurch wird auch die Einflussnahme auf die Politik zur Beliebigkeit – entweder es funktioniert via Geld wie bei der $VP, oder man macht Partei und Personen zum Thema, wie dies die SP des Kantons Zürich mit ihrer Nationalratsliste 2011 ausprobiert.

Da stellen sich einige Fragen- auch solche, die ich nicht beantworten kann und will!

  • Ist jedeR PolitikerIn, welcheR länger als 12 Jahre ein Mandat einnimmt, einE SesselkleberIn? Ist das Amtsalter zwingend gegenläufig mit Sachkompetenz, Engagement und Unabhängigkeit? Dazu müssten sich gerade auch JUSO-Verantwortliche Fragen stellen. Bastien Girod wurde im Alter von 27 Jahren grüner Nationalrat – angenommen, dass er auch nach 16 Amtsjahren nach wie vor Lust an der nationalen Politik hat und seinen Ideenreichtum weiter so pflegt (durchaus eine realistische Option :-)), aber sich trotzdem noch nicht im Bundesrat „entsorgen“ lassen möchte, warum soll er dann mit 41 Jahren nicht weiterhin im Nationalrat sitzen können? Siehe dazu auch die nachfolgenden Überlegungen zum biologischen Alter.
  • Könnte man Politik auch als Job begreifen – oder ist es wegen des offensichtlich nicht funktionierenden kontinuierlichen Verbesserungsprozess nicht möglich, ein Jobprofil „PolitikerIn“ zu erstellen? Denn: weil es keinen Verbesserungsprozess und damit auch keine Politikevaluation gibt, können auch die Anforderungen an eineN PolitikerIn nicht formuliert werden (möglicherweise gilt dies selbst für die oben genannten Eigenschaften Sachkompetenz, Engagement und Unabhängigkeit).
  • Ist es sinnvoll, dass InteressenvertreterInnen (entspricht einer Einschränkung der Eigenschaft „Unbhängigkeit“) im Parlament sitzen – und sich auch im Parlament hauptsächlich mit ihren Interessen beschäftigen? Dazu zwei Anmerkungen:
    • Aus meiner eigenen Erfahrung im Zürcher Kantonsrat (1999-2002) bin ich zum Schluss gekommen, dass etwa Fach-Knowhow zu Nachhaltigkeit mit dem Fokus beim Pfeiler Ökologie der politischen Tätigkeit eindeutig im Wege steht – neuestes Beispiel der absurde und fachlich nicht nachvollziehbare Entscheid des Zürcher Kantonsrates vom 6.6.2011 zu den Wärmepilzen.
    • „Eine günstige Wohnung“ ist eines der Anliegen von MieterInnen – demgegenüber steht „eine günstige Wohnung“ einer nachhaltigen Bewirtschaftung des Liegenschaftenbestandes oder Diskussionen über die Wohnfläche pro Person entgegen. „Eine günstige Wohnung“ ist ein Partikulärinteresse, welches allenfalls auf anderem Weg im Liegenschaftenmarkt umgesetzt werden sollte und kann als über ein politisches Mandat. Gerade in der Schweiz mit der ausgebauten Vernehmlassungsdemokratie und den Möglichkeiten von Referendum und Initiative stellt sich tatsächlich die Frage, ob tatsächlich die Möglichkeit der Interessenvertretung oder allenfalls doch die Selbstdarstellung der stärkere Antrieb für eine erneute Kandidatur ist.
      P.S. Diese Aussage gilt gleichermassen auch für InteressenvertreterInnen der Hauseigentümerschaften.
      P.S. Warum soll die Interessenvertretung der MieterInnen zu einem Mandat in der Legislative verhelfen – wer vertritt dann die Interessen von Big Banderinnen oder Plaisir-KletterInnen?
  • Eine nicht nur in der Politik ungelöste Frage: gibt es ein Maximalalter für einen Job und damit auch für ein Politik-Mandat? Viele der möglichen „positiven“ Anforderungen an PolitikerInnen hängen nicht vom biologischen Alter ab, wie etwa das Beispiel von $VP-Präsident Toni Brunner abschreckenderweise illustriert. Wie ist damit umzugehen, dass seit 1960 die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz um 10 Jahre zugenommen hat – und der dritte Lebensabschnitt sowohl gesellschaftspolitisch wie individuell ein grössere Bedeutung erhält? Heisst dies zwingend, dass auch eine längere berufliche und damit politische Aktivität lange über das offizielle Pensionierungsalter akzeptabel ist? Oder ist auch dies nur ein weiterer Aspekt der Selbstdarstellerei und der Überschätzung der eigenen Bedeutung und Möglichkeiten? Zu beachten dabei auch: ein Aspekt des ökologischen Fussabdruck ist, dass den Individuen zu viel (Konsum-)Geld aus der Erwerbsarbeit zur Verfügung steht!

Wenn die direkte Demokratie eine Zukunft haben sollen, muss sich die direkte Demokratie weiterentwickeln: es braucht eine gesellschaftliche Entwicklung hin zur Nachhaltigkeit, es braucht eine Relativierung der Gruppenegoismen, es braucht „Global Goals“, es braucht auch in der Politik einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Solange es bei der Nomination von Legislativ-KandidatInnen um eigenartige Aspekte wie Dienst- und biologisches Alter oder Möglichkeiten der Interessenvertretung von Gruppenegoismen geht und nicht um einen nachvollziehbaren Stellenbeschrieb für PolitikerInnen mit einem überprüfbaren Anforderungsprofil, bleibt Politik eine Bühne für die SelbstdarstellerInnen!


Die Frage der Gruppenegoismen ist nicht nur eine Frage in der Schweiz. Die Schwierigkeiten etwa des amerikanischen Präsidenten, „Yes We Can“ in den Alltag umzusetzen, hat viel damit zu tun, dass insbesondere die Republikaner unter „We“ – „Wir“ sich etwas ganz anderes vorstellen als Barack Obama …