Bloss ein bisschen Chauvinismus?

Personen, die jeden Tag mehr als 40 Gramm verarbeitete Fleischprodukte verzehren, haben ein erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu jenen, die weniger als 20 Gramm pro Tag essen. Dies die Aussage einer wissenschaftlichen Studie, die unter anderem an der Uni Zürich, Institut für Sozial- und Präventivmedizin, erarbeitet wurde. Der Tagesanzeiger schafft es, dieser Studie Aussagen von Metzgern gegenüberzustellen, bei denen etwa am Beispiel des Grossvaters eines der Metzger („Er wurde über 90 Jahre alt und war kerngesund.„) quasi der Gegenbeweis zu dieser Studie angetreten wird. Gerade bei der Ernährung handelt es sich dabei um eine typische Reaktion von Medien und einem Teil der Gesellschaft zu Erkenntnissen, die bisherige Verhaltensweisen und liebgewordene Traditionen in Frage stellen.

Auch Forschung hat unterschiedliche Qualitäten – es gehört aber leider immer häufiger dazu, dass Forschungsarbeiten, die die bisherigen Verhaltensweisen und liebgewordenen Traditionen in Frage stellen (das gilt neben Auto, Fleisch, Rauchen, Übergewicht auch für Studien, die einen Weg weg von Erdöl und Atomenergie fordern) zuerst von den Medien und dann von den entsprechenden LobbyistInnen ins Abseits gestellt werden.

Exzesse wie das unsägliche Geschreibsel der Weltwoche über verdiente und anerkannte ProfessorInnen (aus Absicht kein Link) gehören genauso zu diesem Phänomen wie die Geschichte um Nationalrat Mörgeli (als neue These: es könnte durchaus auch sein, dass dessen Leistungsbeurteilung an der Uni Zürich nach dem voraussichtlichen Schleudertrauma nach einem Selbstunfall etwas anders ausfällt als vor dem Unfall – da es allerdings nach $VP Schleudertraumas gar nicht gibt, muss von Mörgeli und Co. das Gerücht der politisch motivierten Kündigung konstruiert werden).

Fakt ist: die aktuelle Politik, die aktuelle Haltung von Medien und Gesellschaft zur Forschung macht die akademische Karriere für fähige Menschen in diesem Land alles andere als attraktiv. Erst ist geradezu absurd, wenn etwa die Economiesuisse behauptet, es gäbe zu viele Studierende der Geisteswissenschaften in diesem Land, aber dann verlangt wird, dass ein Lehrstuhl durch einE SchweizerIn besetzt wird.

Wenn mit Hinweis auf die Personenfreizügigkeit und einer „Das Boot ist voll“-Haltung neo-faschistoide Strömungen wie ECOPOP immer mehr an Dynamik zunehmen, ist es nicht bloss Chauvinismus, wenn Tamedia eine Kampagne gegen die Uni und deren Berufungsverfahren betreibt. Zitat: Der «Tages-Anzeiger» hatte publik gemacht, dass nur deutsche Kandidaten in die engere Auswahl kamen, die zudem kaum mit der Schweizer Medienlandschaft vertraut seien. Komplex ist die Schweizerische Medienlandschaft kaum, und auch an der Uni Zürich besteht ein akademischer Unterbau, der dafür sorgen kann, dass die neue Professorin oder der neue Professor ausreichend schnell (vielleicht braucht es etwas mehr als hundert Tage) eingearbeitet wird und sich die nötigen Kenntnisse über die Schweizerische Medienlandschaft erarbeiten kann. Da es ausgerechnet Tamedia ist, welche sich nachweislich am Abbau der Medienqualität beteiligt, dürfte dieser Anfall von Chauvinismus einen andern Hintergrund haben: es ist nicht auszuschliessen, dass Tamedia hier eine Professur installieren will, die den Vorstellungen des Tamedia-Konzerns entspricht. Es ist daher höchst problematisch, dass die Uni Zürich das Berufungsverfahren sistiert hat.

Landesgrenzen sind selbst dann, wenn sie sich an natürlichen „Hindernissen“ wie Flussläufen ausrichten, ziemlich willkürlich und zudem veränderbar. Es gehört zu den guten Traditionen der Aufklärung, derartige Grenzen nicht als Denkgrenzen zu verstehen. Auch in der Wissenschaft ist das Denken an und ausserhalb der Grenzen zentral. Impulse und Innovationen entstehen häufig dadurch, dass bisherige Verhaltensweisen und liebgewordene Traditionen in Frage gestellt werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies eine individuelle Eigenschaft ist, die nicht vom Passbüchlein des Individuums abhängig ist. Zu beachten ist zudem: gerade in einem kleinen Land wie der Schweiz haben viele Menschen einen Migrationshintergrund – sämtliche Städte in der Schweiz dürften mehr „zugewanderte“ als „eingeborene BewohnerInnen haben (als Nebenbemerkung: viele der von weit zugewanderten Menschen dürften dabei die $VP-Kriterien der „Swissness“ besser erfüllen als einige SchweizerInnen, deren Familien seit Urzeiten in der Schweiz nachweisbar sind. Im Interesse der Wissenschaft sind Anteile von „Nicht-SchweizerInnen“ auf allen Stufen der Wissenschaft nicht akzeptabel. Es fällt zudem immer wieder auf, dass eine beachtliche Zahl von SchweizerInnen im Ausland tätig ist, auch im wissenschaftlichen Rahmen.