Bistum Chur: wenn die Leitung die Kirche an die Wand fährt

Kirchenaustritte nehmen, etwa bei den römisch-katholischen Kirchgemeinden im Kanton Zürich, massiv zu. Gerade in der Schweiz hat auch die katholische Kirche den Anspruch, eine offene Volkskirche zu sein – nicht eine ausgesprochene Bekenntniskirche.

Eine offene Kirche heisst: in einem Staat, dessen nationale Verfassung mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ beginnt, in einem Staat, in dem die Präambel der Verfassung des bevölkerungsreichsten Kantons (Zürich) auf die Schöpfung Bezug nimmt (einen biblischen Begriff), das Wissen um die Grenzen menschlicher Macht postuliert, in einem solchen Staat haben die Menschen den Anspruch, Bezug nehmen können auf die zentralen ethischen und moralischen Gebote, die die Basis der christlichen Religion darstellen. Der metaphysische Hintergrund, der Glaubensbefehl, die wortwörtliche Bedeutungsanalyse eines jahrtausende alten Schriftstücks, entstanden in Zeiten, die kaum mehr etwas gemein haben mit der Jetztzeit, das also, was eine Bekenntniskirche ausmacht, hat in der aufgeklärten Welt des christlichen Abendlandes wenig Bedeutung. Die meisten Menschen verstehen sich zwar trotz allem als zugehörig zu einer Glaubensgemeinschaft – und erwarten ethischen und moralischen Support für die vielen schwierigen Fragen des Alltags.

Insbesondere die katholische Kirche hat in den letzten Jahren durch unerträgliche Skandale von sich reden gemacht – Missbrauch von insbesondere jungen Menschen durch Mitarbeitende dieser Kirchen, Annäherung an Sekten, die die abgrundtiefe menschliche Tragödie des Holocaust leugnen als herausragende erschreckende Beispiele. Die offizielle Kirche hat vor allem zu lange geschwiegen zu diesen empörenden Skandalen, wollte – wie schon seit Jahrhunderten, die das Vergessen fördernde Zeit wirken lassen. Diese Kirchenvertreter lassen die gewaltigen kirchlichen Hierarchien spielen, die in eine Spitze von katzbuckelnden alten Männern mündet – verlogen, scheinheilig, wie die Realitäten zeigen.

Es ist sicher die Aufgabe der Kirchenhierachie, die lange Geschichte dieser Kirche zu bewahren – die katholische Kirche ist aus ihrer Geschichte heraus eine konservative Kirche. Gerade beim galoppierenden Wertewandel ist ein bewahrende Kirche durchaus von Bedeutung für das ethische und moralische Wohlbefinden der Menschen. Nur: die aktuelle Kirchenhierarchie ist weit über den verständlichen Konservativismus geradezu erstarrt – diese Kirchenhierarchie ist unfähig, die minimalsten Anpassungsschritte vorzunehmen. Diese Erstarrung lässt sich an einem Beispiel erläutern: 1632 wurde Galileo Galilei von der Inquisition verurteilt (zu lebenslänglichem Hausarrest), weil die Kirche die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des heliozentrischen Systems nicht akzeptieren wollte. 1992 hat die katholische Kirche Galileo Galilei posthum rehabilitiert (also lange nach den ersten Mondlandungen). 360 Jahre also hat die katholische Kirche gebraucht, um ihren Fehler von damals sowohl einzusehen wie zu bedauern.

Im Bistum Chur gärt es seit langer Zeit – Bischof Vitus Huonder und seine Personalgeschichten, vom Zürcher Weihbischof Marian Eleganti bis zur Causa Grichting, provozieren. Aktuelles Beispiel: der Regens Ernst Fuchs, Leiter des Churer Priesterseminars, demissioniert, weil der Bischof offenbar Männer zu Priestern ausbilden lassen möchte, die in der Beurteilung des Regens für diese Aufgabe nicht geeignet sind, womit der Bischof in der Beurteilung von Ernst Fuchs das Kirchenrecht verletzt. Nicht gerade so lange wie bei Galileo Galilei, aber immerhin fast eine ganze Arbeitswoche, will sich der Bischof Zeit lassen mit einer Reaktion, Originalzitat: Zu den Medienberichten rund um die Nachricht der Demission von Regens Ernst Fuchs wird Bischof Vitus Huonder bis spätestens Freitag, 18. Februar 2011, klärende Fakten kommunizieren. Bis zu diesem Zeitpunkt bitten wir Sie noch um Geduld.

Ähnlich geht es auch den Zürcher KatholikInnen: An der Synodensitzung von Anfang Dezember 2010 wollte eine Gruppe von Synodalen ein klares Zeichen setzen und die Beiträge an das Bistum nicht genehmigen. Beschwichtigende Kräfte haben sich durchgesetzt, und ein Gespräch mit dem Bischof versprochen. Dieses fand am 9. Februar 2011 statt. Obwohl die von den Zürcher KatholikInnen zur Diskussion gestellten Fragen seit mindestens Anfang Dezember 2010 bekannt sind, ergab sich als Ergebnis dieses Gespräches, dass der Bischof Denkruhe beanspruche und darum mindestens 14 Tage Geheimhaltung gelte – zusammen mit den Äusserungen zur Demission von Regens Fuchs verursachen diese Arbeiten jetzt aber dem armen Herr Bischof gerade ziemlich viel Stress (falls dieser Satz sarkastisch tönen sollte, wäre dies nicht die Absicht). Oder muss Bischof Huonder zuerst auf hierarchischem Weg die Erlaubnis für eine nichtssagende Antwort einholen?

Fazit: Entweder hat auch der Bischof von Chur nicht begriffen, wie ernst die Lage in der Kirche ist, dass viele sich bereits als „KatholikInnen trotz allem“ bezeichnen, und jederzeit das Tröpfchen zuviel an kirchlichem Unvermögen die nächste Austrittswelle auslöst – oder auch der Bischof ist froh um jedes die Kirche verlassende Mitglied, damit die Kirche möglichst rasch nur noch aus den „wahren“ Gläubigen besteht. Es wird immer offensichtlicher, dass hier die aktuelle Kirchenleitung die offene Weltkirche an die Wand fährt, weil sie wegen machtpolitischen Überlegungen das Risiko eines Totalabsturzes der katholischen Kirche in Kauf nimmt.

Das System der staatskirchenrechtlichen Institutionen als Gegen- und Ergänzungspol zu den innerkirchlichen Bereichen hat etwa im Kanton Zürich eine lange Tradition. Als Alternative zur vollständigen Trennung von Kirche und Staat setzen auch die Zürcherinnen und Zürcher auf das demokratische Element – Stichwort Kirchengesetz, um die unbestrittenen Verdienste der Kirchen als Beitrag zum ethischen und moralischen Wohlbefinden nutzen zu können. Gerade die innerkirchlichen Kräfte tun gut daran, den institutionellen Austausch mit der „Basis“ zu nutzen. Kirche darf (werte-)konservativ sein, aber nicht erstarrt: die Aufhebung des Zwangszölibat für Priester etwa ist längst überfällig, auch sind Frauen für das Priesteramt zuzulassen, siehe auch das Memorandum deutscher Theologen „Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch„.

Im übrigen: Gerechtigkeit und Frieden, wichtige christlich motivierte Anliegen, verlangen im übrigen eindeutig progressive gesellschaftspolitische Haltungen!

Interessenbindung: Toni W. Püntener ist als KTA (Katholik trotz allem) Mitglied der Synode (=Kirchenparlament) der römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich als Synodal der katholischen Pfarrei St. Theresia (Zürich Friesenberg).