2000-Watt-Gesellschaft: wenn Physik energie- und klimaschutzpolitisch wird

2000 Watt? Aha, das ist irgendwie aus der Physik, oder? Leistung ist doch das? Aber was hat das mit Energie und erst recht mit Energiepolitik zu tun? – So oder ähnlich lauten die Fragen aus dem Publikum, wenn das Thema „2000-Watt-Gesellschaft“ diskutiert wird. Nach der Erklärung, dass es sich dabei um die mittlere Dauerleistung geht, die ein Mensch durch seine Aktivitäten verursacht, und dass über die physikalische Formel „Energie = Leistung mal Zeit“ der Zusammenhang mit der Energiepolitik selbstverständlich sichergestellt ist, und der Erläuterung, dass das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft erstens ein globaler Ansatz ist und zweitens auch ein Klimaschutzziel umfasst, wird klar, dass die Bedeutung beim zweiten Teil „Gesellschaft“ liegt. Bestätigt wird dies dann durch Hinweise auf 2000-Watt-Gesellschaft-Basher wie den Zürcher Regierungsrat Markus Kägi, die DARCH-Professoren der ETH oder den Auto-Anzeiger, früher Tages-Anzeiger. Ohne Wenn und Aber: die Vision der 2000-Watt-Gesellschaft ist das anspruchsvollste energie- und klimaschutzpolitische Programm der Gegenwart.

Würde „Nachhaltige Gesellschaft“ anstelle von „2000-Watt-Gesellschaft“ (was auch ein Anspruch der 2000-Watt-Gesellschaft ist) stehen, gäbe es nie derart intensive Diskussionen, würde kein Anlass zum Bashing bestehen. Erst der Einbezug der physikalischen Grösse „2000 Watt“ macht diese Vision so brisant. Im übrigen ganz im Sinne der Klimaschutz- und Klimawandelanpassungs-Diplomatie nach Cancún, die verlangt, dass Klimaschutzmassnahmen „Measurable, Reportable and Verifiable“ zu sein haben.

Was verlangt die 2000-Watt-Gesellschaft? Das Methodikpapier nennt im wesentlichen zwei Dinge:

  1. der Primärenergieverbrauch pro Person ist auf 2000 Watt Dauerleistung zu vermindern; dieser Wert gilt für den Energieverbrauch und die graue Energie der Energie, also ohne die Primärenergien des Netto-Saldos von Güter- und Dienstleistungs-Ex- und Importen.
  2. der Ausstoss von Treibhausgasen (aufgrund des Primärenergieverbrauchs) ist auf 1 Tonne CO2 pro Person und Jahr zu vermindern.

Die Zeitachse ist Gegenstand einer definitiv als akademisch zu betrachtenden Diskussion, denn jeder dieser Zeitachsenvorschläge mit Zielhorizonten von 2050 bis 2150 geht davon aus, dass gegenüber der bisherigen Energie- und Klimaschutzpolitik deutliche Verschärfungen und Verstärkungen angezeigt sind. Zumindest für die nächsten 10 Jahre sind die zu ergreifenden energie- und klimaschutzpolitischen Massnahmen unabhängig von der Zeitachse! Es ist angezeigt, den Brain und die Innovationsideen für den Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft zu verwenden, statt sich darüber Gedanken zu machen, wie weit entfernt das weit entfernte Ziel real oder gefühlt tatsächlich ist. Realistischerweise: es ist davon auszugehen, dass unabhängig von der Zeitachse nach wie vor viel zu wenig zur Erreichung dieser ambitiösen Ziele getan wird!

Das Bashing-Potential der methodischen Festlegungen zur 2000-Watt liegt in zwei Punkten:

  1. die Verwendung der Primärenergie führt dazu, dass eine Kilowattstunde Strom aus einem Atomkraftwerk mit einem Gewichtungsfaktor von 4.08 in die Bilanz eingeht, während die entsprechende Kilowattstunde Strom aus einem Wasserkraftwerk nur mit dem Faktor 1.22 einfliesst – eine Atomstrom-Kilowattstunde „belastet“ also die persönliche Bilanz mehr als dreimal so stark wie eine Kilowattstunde Wasserkraftstrom.
  2. Der Primärenergieinhalt von genutzten erneuerbaren Energien am Standort wird zusätzlich zur grauen Energie ebenfalls in die Bilanz einbezogen. Der Ertrag eines Sonnenkollektors wird energiebuchhalterisch nicht am Verbrauch abgezogen, sondern wirkt sich ebenfalls auf die persönliche Energiebilanz aus. Dahinter steht die Ueberlegung, dass sowohl am Gebäude selbst als auch global betrachtet die Flächen zur Nutzung erneuerbarer Energien beschränkt sind, und dass auch zur Nutzung erneuerbarer Energien (seltene) Ressourcen beansprucht werden (Stichwort Peak Everything).

Diese methodischen Festlegungen führen zu einer gesellschaftspolitisch relevanten Prioritätenfestsetzung. welche in sich logisch ist und umfassenden Nachhaltigkeitsansprüchen genügt:

  1. Die generellen Ansprüche – von der Wohnfläche über die Konsummöglichkeiten (Ernährung, elektrische und elektronische Geräte, Freizeit, Ferien, Kleider) bis zu Mobilitäts-/Verkehrsbedürfnissen – sind zu hinterfragen. Angesichts des aktuell massiv übermässigen ökologischen Fussabdrucks der durchschnittlichen Schweizerin, des durchschnittlichen Schweizers ist LOVOS (Lifestyle of voluntary simplicity) angesagt!
  2. Die verbleibenden Ansprüche sind möglichst effizient abzudecken, sowohl bezüglich Primär-Energieverbrauch als auch bezüglich des Ausstosses von Treibhausgasen. Es konnte an einigen Beispielen (etwa von den Architekturbüros Kämpfen und Viridén Partner) gezeigt werden, dass Null-Heiz- oder gar Plus-Heiz-Energie-Gebäude auch im Bestand möglich sind, allerdings bezogen auf die Endenergie, bezüglich Primärenergie ist eine Null- oder gar Plusenergie-Anforderung auch nicht erforderlich – allerdings sind diese Bauten noch eigentliche Pilot-Vorhaben, was sich sowohl in den Kosten als auch in der derzeit noch nicht flächendeckenden Multiplikation äusserst. Oder anders: Die Bauwirtschaft ist derzeit noch nicht umfassend in der Lage, diese Herausforderung bewältigen zu können (wahrscheinlich die Hauptmotivation der DARCH-Professoren für ihre Ablehnung der Vision der 2000-Watt-Gesellschaft).
    Analoges gilt für den Verkehrsbereich: die MIEV-Fahrzeuge setzen höchstens einen Sechstel der in Diesel, Benzin, Erd- oder Biogas enthaltenen Energie in Nutzenergie um – der Wechsel zum Elektroantrieb ermöglicht eine wesentliche Effizienz-Steigerung (selbstverständlich in Verbindung mit dem 3. Punkt der Prioritätenordnung.
  3. Der resultierende Energieverbrauch ist durch Energieträger/-quellen mit möglichst geringem Primärenergieverbrauch und möglichst minimierten Treibhausgasemissionen abzudecken – fossile und nukleare Brenn- und Treibstoffe gehören nicht dazu.

Der Kanton Zürich setzt zuerst auf die in der Endenergiebetrachtung CO2-reduzierte Atomenergie und zieht gewisse Effizienzüberlegungen mit ein, wehrt sich aber nur schon bei leichten Bezügen zu „Verzicht“. Die DARCH-Professoren setzen (im Gebäudebereich) fast ausschliesslich auf den Wechsel von den fossilen Energieträgern auf je nach politischer Ausrichtung entweder beliebige Mengen von global bereitgestellten erneuerbaren Energien oder einen massiven Ausbau der Atomenergie. Objektiverweise ist davon auszugehen, dass weder die Position des Kantons Zürich noch jene DARCH-Professoren in einem umfassenden Sinn als nachhaltig gelten kann.


An einem einfachen Beispiel lässt sich aufzeigen, warum Regierungsrat Markus Kägi darauf angewiesen ist, für die Legitimierung seiner Axpo-Aktionärsstrategie die Vision der 2000-Watt-Gesellschaft zu bashen und die Verzichtsüberlegungen derart grotesk einzubeziehen.

Das bereits oben erwähnte Methodikpapier zur 2000-Watt-Gesellschaft enthält die Abschätzung des aktuellen Standes der 2000-Watt-Gesellschaft für die Stadt Zürich für das Jahr 2005.

Im Jahr 2005 – Startpunkt der Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft – betrug die mittlere Primärenergiedauerleistung einer Bewohnerin, eines Bewohners der Stadt Zürich 5’000 Watt bei Treibhausgasemissionen von etwa 5.5 Tonnen CO2-Aequivalenten. Davon machte Strom rund 46 % oder 2’300 Watt (Primärenergiefaktor Strom 2.41 kWh/kWh, Anteil Atomenergie 42.5 %) aus.

Seit der ewz-Tarifrevision 2006 mit freier Wahl der Stromqualität hat sich der nachgefragte Strommix und somit der Primärenergiefaktor deutlich verändert: 2009 betrug der Atomenergieanteil am Strommix der Stadt Zürich 26.7 %, was den Primärenergiefaktor auf 1.95 kWh/kWh verminderte. Die mittlere Primärenergiedauerleistung sank auf 4’560 Watt, 1’870 Watt oder 41 Prozent für den Strom.

Würde die Stadt Zürich mit dem EKZ-Strommix 2009 beliefert (Atomstromanteil 73.93 %, Primärenergiefaktor 3.37 kWh/kWh), würde die mittlere Primärenergiedauerleistung auf 5’920 Watt pro Person steigen, mit einem Stromanteil von 54.6 Prozent oder 3’230 Watt.

Das heisst: allein wegen des Strommixes lag im Jahr 2009 die mittlere Primärenergiedauerleistung mit EKZ-Strom rund 30 % höher als mit ewz-Strom! Da absehbar ist, dass zukünftig der Stromanteil steigen wird, führt die Atomstrompolitik des Zürcher Regierungsrates zu einer weiteren Steigerung des Primärenergiefaktors der Energieversorgung – die Erreichung der Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft würde dadurch nahezu unmöglich! Wird demgegenüber die Stromversorgung auf erneuerbare Energien ausgerichtet – mit der Ausnutzung des lokalen Potentials an erneuerbaren Energien, aber auch unter Einbezug von Investitionen in auch ausländische Windparks und Solaranlagen, wie dies derzeit der Strategie des ewz entspricht – kann der Primärenergiefaktor der Stromversorgung und damit die mittlere Primärenergiedauerleistung weiter vermindert werden. Das heisst: Herr Kägi muss die Vision der 2000-Watt-Gesellschaft bashen, um Marketing für neue Atomkraftwerke (im übrigen: Bedarf = Null) betreiben zu können!

Als Zusammenfassung und Wiederholung: Die Vision der 2000-Watt-Gesellschaft ist eine der wenigen Energie- und Klimaschutzpolitik-Strategien, die umfassenden Nachhaltigkeitsansprüchen genügt!